Wintermond (German Edition)
weißt.
Alex
Kaum, dass Ben zu Ende gelesen hatte, nahm er den Brief herunter und legte seinen Kopf in den Nacken. Dabei biss er sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Er versuchte ruhig zu bleiben, doch das gelang ihm nicht. Sein Körper hatte bereits damit begonnen, Unmengen von Adrenalin durch seine Adern zu pumpen, was zu einem unangenehmen Kribbeln unter seiner Haut führte.
Schließlich konnte er nicht mehr länger an sich halten. Während er seinen Kopf wieder nach vorn nahm, fluchte er laut los: „Scheiße ... SCHEISSE, verdammt!“
Dieses Mal kam er sich nicht vor wie einem schönen Traum, sondern viel mehr wie in einem miserablen Albtraum, dessen Inhalt binnen weniger Sekunden jegliche Hoffnung und Freude in ihm verblassen ließ.
Er konnte nicht glauben, was er gelesen hatte. Er war entsetzt und fassungslos zugleich. Für ihn zählte nur ein bestimmter Teil des Briefes, all die anderen Worte, die Alex mühselig geschrieben hatte, verdrängte er vorerst. Ihn belastete der Part, in dem Alex davon schrieb, zur Polizei gehen zu wollen. Ben wusste, was das bedeuten würde. Zwar hatte nicht Alex, sondern Diego den Studenten zusammengeschlagen, aber dennoch würde man dem Blonden etwas wie Mittäterschaft oder unterlassene Hilfeleistung anhängen. Hinzu kamen der Einbruch und eventuell auch sämtliche Fakten über die illegalen Pokerspiele, an denen Alex teilgenommen hatte. Vermutlich würde er der Polizei von den Spielen erzählen müssen. Wie sonst sollte er den Beamten erklären, sich hoch verschuldet und nebenbei regelmäßig eine Menge Geld von seinem Vater erhalten zu haben?
Mit dem Gang zur Polizei würde nicht nur ein Teil der Wahrheit, sondern letztendlich alles ans Licht kommen, weshalb Alex höchstwahrscheinlich mit einer hohen Strafe rechnen konnte. Diese Strafe wäre dann eine Art Keil, der sich zwischen ihn und den Blonden schieben und die erst frisch begonnene Beziehung sofort wieder zerstören würde.
„Alex, du bist ein verdammter Idiot ...“, fluchte er weiter, während er nervös im Zimmer auf- und abzuschreiten begann. „Wieso machst du nur so ’ne Scheiße?“
Ben wollte den Blonden nicht verlieren und befürchtete, dass genau das in naher Zukunft passieren könnte - entweder durch eine mögliche Gefängnisstrafe oder durch erschwerende Umstände, die Alex auf ein Neues verändern würden, und das vielleicht so stark, dass er in seine alte Rolle zurückschlüpfen würde.
Was sollte er nur tun? Ben fühlte sich vollkommen hilflos. Einerseits war er beeindruckt über den Tatendrang des Blonden und darüber, dass dieser mittlerweile eine Menge seiner vergangenen Fehler eingesehen hatte und wieder gutmachen wollte, doch andererseits überwog die große Angst davor, Alex erneut zu verlieren.
Ben wusste nicht einmal, was genau Alex der Polizei sagen wollte. Ob er nur den Einbruch und die Sache mit dem Studenten zugeben oder gleichzeitig all seine anderen Probleme bezüglich des Pokerns offenlegen wollte. Ben befürchtete nämlich, dass, wenn er dies tun würde, eine Menge weitere Probleme auf den Blonden zukommen würden. Ben hatte die Kerle, mit denen Alex sich angelegt hatte, schon selbst erlebt und in den letzten Wochen mitbekommen, wozu sie fähig waren. In Alex’ Brief hatte er noch weitere Details erfahren. Die Typen hatten ein Auto abgefackelt, eine Wohnung demoliert, einen Hund getötet und Alex’ Leben mit ständigen Drohungen fast völlig zerstört. Wenn Alex der Polizei Angaben zu genau diesen Leuten machen würde, könnte sich das vielleicht strafmildernd auf ihn auswirken, doch gleichzeitig würde er vermutlich mit heftigeren Drohungen und Vorkommnissen rechnen müssen. Möglicherweise würden die Typen Alex dann etwas antun, ihn vielleicht sogar umbringen. Immerhin hatten sie schon einmal auf ihn geschossen.
Ben geriet in Panik. Mit einem Mal begann er sich heftige Sorgen um Alex zu machen. Er fragte sich, wie Alex das ganze Vorhaben überhaupt geplant hatte und ob er erst zur Polizei gehen oder zunächst einmal das Geld zur Begleichung seiner Schulden abliefern würde.
Er begann immer hektischer durch das Zimmer zu staksen. Sein Adrenalinspiegel stand kurz vor dem Höhepunkt. Er bekam schwitzige Hände und konnte sein Herz wie wild gegen seinen Brustkorb hämmern spüren. Neben seinen Ängsten wurde er wütend. Wütend, weil Alex nicht mit ihm geredet, ihm nur einen beschissenen Brief hinterlassen hatte. Wieso hatte Alex nicht erst einmal abwarten
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