Wintermond (German Edition)
Tatsache ging deutlich aus dem Brief hervor. Deshalb blätterte Ben noch einmal hektisch zur ersten Seite zurück und überflog auch dort ein paar Zeilen.
„ Schon komisch ... alles hat verhasst begonnen und nun sitz ich hier ... neben dir im Bett ... und hab das Gefühl, überhaupt nicht mehr ohne dich klarkommen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich selbst schwul sein könnte. “
Der gesamte Brief beinhaltete nicht nur viele Antworten und Erklärungen, sondern stellte gleichzeitig ein ziemlich intimes Liebesgeständnis dar. Dieser Gedanke ließ Ben allmählich wieder etwas ruhiger werden. Statt der Wut begann er sich mit einem Mal sogar recht geehrt zu fühlen, da Alex ihm all seine Probleme anvertraute. Er schien dem Blonden wirklich viel zu bedeuten. Das stand mittlerweile außer Frage. Im Normalfall würde eine derartige Einsicht ein ungeheuer positives Gefühl in ihm auslösen, doch in Anbetracht der Umstände fühlte er sich nur umso miserabler.
Er und Alex waren sich gestern so nahe gewesen und nun waren sie sich ferner als je zuvor.
Wieder wurde Ben wütend. Dieses Mal jedoch nicht auf Alex, sondern auf sich selbst. Er verfluchte sich dafür, Alex nicht vom Gehen abgehalten zu haben. Er hatte doch gespürt, dass mit dem Blonden etwas nicht stimmte. Wieso war er nur derart nachgiebig gewesen und hatte nicht so lange weiter nachgehakt, bis Alex irgendwann mit der Wahrheit rausgerückt wäre? Das hätte ihm einiges erspart, denn dann würde er sich jetzt nicht einer derart ausweglosen Situation befinden.
Doch gleichzeitig in erinnerte er sich an ihren kurzen Streit aufgrund von Bens Überreaktion zurück und damit auch daran, wie gut Alex am heutigen Morgen ausgesehen hatte. All diese Kleinigkeiten hatten ihn so durcheinander gebracht und irritiert, dass er letztendlich resigniert hatte.
Ja, er hätte Alex aufhalten sollen, doch gleichzeitig hätte er kaum ahnen können, dass der Blonde etwas derartig Heftiges vorhatte. Vielmehr hatte er geglaubt, dass Alex sich nur aufgrund der anstehenden Geldübergabe schlecht gefühlt hatte oder aber, weil er Jo gegenübertreten musste. Ben hatte gedacht, dass der Brief ein paar Erklärungen auf Geschehenes beinhalten würde, aber nicht, dass dessen Inhalt heftige Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Sein Herzschlag beschleunigte sich erneut. Er legte den Brief zur Seite und stand wieder auf. Er konnte nicht ruhig dasitzen und abwarten. Wieder einmal begann er sich nach irgendeinem sinnlosen Laster zu sehnen, egal ob Alkohol oder Zigaretten - einfach nach irgendetwas, das ihm in jenem Moment Halt geben und den Druck in seinem Inneren verringern könnte. Doch leider hatte er keine Sünden. In seinem bisherigen Leben war es stets Sport gewesen, mit dessen Hilfe er sich in aufgebrachten Situationen abreagiert hatte. Nach Laufen war ihm aktuell allerdings nicht annähernd zumute.
Er wollte etwas tun und wusste, dass er so schnell wie möglich handeln musste.
Nervös fuhr er sich mit der Hand über die Lippen und schritt zum Fenster. Von dort aus warf er einen Blick auf die verschneite Straße, an dessen Seiten sich hohe Berge aus mit Matsch vermischtem Schnee gebildet hatten.
Denk nach! , dachte er und zwang sich förmlich, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Die Situation war ernst. Wenn er Alex nicht von seinem Vorhaben abhielt, würden eine Menge weiterer Probleme auf sie zukommen. Außerdem gab es auch noch Diego und die anderen Kerle, die Ben nur schwer einschätzen konnte. Alex schien kurz davor zu sein, sich mit einer Bande schmieriger Typen anzulegen, die vermutlich schon eine äußerst kriminelle Laufbahn hinter sich gelassen hatten. Vermutlich würden die Kerle keine Rücksicht auf Alex nehmen und ihn letztendlich fertig machen. So fertig, dass ihm entweder etwas zustoßen oder er sich erneut so heftig verändern könnte, dass Ben irgendwann keine Chance mehr haben würde, an ihn heranzukommen.
Genau das galt es zu verhindern und deshalb brauchte er eine Idee oder irgendeinen Plan, der Alex davon überzeugen würde, nicht zur Polizei zu gehen.
Er blickte angestrengt nach draußen. Seine Augenbrauen hatte er kritisch zusammengezogen. Er dachte scharf nach. Währenddessen beobachtete er ein paar Leute, wie sie einander auswichen, um den freigefegten Pfad benutzen zu können, der ziemlich glatt und relativ schmal zu sein schien. Auch beobachtete er die Autos, wie sie im Schritttempo durch die Straße fuhren und dessen Reifen tiefe Furchen im Schnee
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