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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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verkriechen können?«, fragte er, ohne eine ernsthafte Antwort zu erwarten. Er bekam auch nur ein ungeduldiges Brummen von David zu hören. »Wie du weißt, gehörte Convinius einmal zu unserem Rudel. Er kam in einem sehr jungen Alter zu uns, noch ein halbes Kind. In meiner Erinnerung war er ein unbeschwerter Bursche, der sich ausgesprochen wohl in seiner Wolfshaut fühlte. Auf seinem Kopf wuchs die Art von blonden Locken, die sich wie Korkenzieher in die Luft schrauben. Als ich Jahrzehnte später neben seinem zerfleischten Leichnam stand, hat mich der Anblick seines geschorenen Kopfes mehr mitgenommen als alles andere. Damals, als Convinius zu unserem Rudel stieß, hätte ich niemals darauf gewettet, dass das Leben diesem gut gelaunten Geschöpf so viel rauben würde. Bei seinem Busenfreund Hagen sah das ganz anders aus.«
    Bei diesen Worten zog David erstaunt die Augenbrauen hoch, und Nathanel gab ein leises Lachen von sich. »Man mag es kaum glauben, nicht wahr? Convinius und Hagen, die beiden lebenden Gegensätze. Aber was bleibt zwei jungen Männern, die in der Rangordnung ganz unten stehen, anderes übrig, als sich zusammenzutun? Eine schwierige Situation - das verbindet. Eine solche Freundschaft täuscht überVerschiedenheiten hinweg. Damals habe ich meinen ersten Fehler begangen: Ich bin davon ausgegangen, dass Convinius’ Freundschaft Hagen in die richtige Richtung lenken würde.«
    Mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrach David die Erzählung. »Das ist ja alles wirklich sehr interessant, aber können wir diese kleine Geschichtsstunde vielleicht ein anderes Mal abhalten?«
    »Nein«, erwiderte Nathanel nüchtern. »Um Hagen zu schlagen, musst du begreifen, wer er ist. Wusstest du, dass er von einem anderen Rudel aufgezogen worden ist, das ihn schließlich vertrieben hat?« David zuckte gleichgültig mit der Schulter, doch davon ließ Nathanel sich nicht abhalten. »Weil ihm der Wolf davongelaufen ist, so lautete seine Erklärung. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn in den ersten Lebensjahren ist der Wolf ja noch in der Lage, seine Schattenform anzunehmen und sich seinen eigenen Angelegenheiten zu widmen. Allerdings hatte Hagen die Schwelle zum Erwachsensein fast überschritten. Nur in den Augen unserer damaligen Anführerin Piroschka war er noch ein halbes Kind, Bartschatten hin oder her.Wir hätten misstrauischer sein sollen. Aber zunächst lief alles gut. Als dann die Schwierigkeiten in unserem Revier begannen, war es vermutlich Convinius’ Talent geschuldet, dass auf Hagen niemals mehr als ein schwammiger Verdacht fiel.«
    Nathanel konnte ein schmerzverzerrtes Ächzen nicht länger unterdrücken. Die letzten Wochen hatten seine ohnehin angegriffenen Kraftreserven aufgebraucht, und die Suche nach David hatte ihn an seine Grenzen getrieben. Mit steifen Gliedern setzte er sich auf den Boden und wischte sich über die Stirn, auf der sich kalter Schweiß angesammelt hatte. In seinem Inneren jaulte der Wolf leise, ein Trost trotz der Sorge, die der Dämon empfand.
    Einmal mehr wurde sich Nathanel bewusst, wie sehr sein lebenslanger Gefährte darunter litt, dass sein Hüter im Gegensatz zu ihm allmählich an Lebenskraft verlor. Dass das Wissen um den baldigen Abschied schon länger feststand, machte es für beide nicht leichter. Mehr als jeder andere im Rudel war Nathanel mit seinem Wolf verschmolzen, daher machte die Gewissheit, schon bald voneinander getrennt zu sein, den Gedanken an den bevorstehenden Tod unerträglich.
    Nach kurzem Zögern trat David auf Nathanel zu und ging vor ihm in die Hocke. Der Zorn in seinem Blick war Besorgnis gewichen, obgleich er es nicht wagte, den älteren Mann zu berühren.Aber Nathanel verstand auch so, dass sein geschwächter Zustand dem Jungen zusetzte: Ganz gleich, was er ihm angetan hatte, es gelang David nicht, sich von ihm abzuwenden. So stolz Nathanel dieser Zuneigungsbeweis auch machte, er passte nicht zu seinen Plänen. Und an denen würde er festhalten - dieses Mal würde er keinen Fehler begehen.
    Langsam öffnete Nathanel seinen Geist und ließ seine Erinnerung hinausströmen. Dabei blickte er in Davids weit aufgerissene Augen, als dieser zum ersten Mal von einer Gabe des Dämons heimgesucht wurde, die er noch nicht kennengelernt hatte. Bislang war es David bloß gewohnt gewesen, dass die stärkeren Wölfe in seinen Geist eindrangen, um ihn zu kontrollieren und zu verhöhnen. Doch nun erkannte er den eigentlichen Sinn dieser Fähigkeit: Ein

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