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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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verbindendes Moment, das das Rudel miteinander verknüpfen konnte - auch diese Gabe hatte Hagen offensichtlich zu einer Waffe der Unterdrückung umgeschmiedet.
    Während David in Nathanels Vergangenheit eintauchte, verfärbte sich sein Gesicht grau, als entwiche ihm alles Leben. Der Dämon umschlang ihn, hüllte ihn in Schatten. Schließlich schloss Nathanel seine Augen und stieg ebenfalls in die Vergangenheit hinab, um den Jungen dorthin zu führen, wo er ihn haben wollte.
     

Kapitel 29
Königsmord
    Vor gut zwei Jahrzehnten waren die Zeiten für das Rudel härter gewesen: Die Ausmaße der Stadt waren mit den heutigen nicht zu vergleichen, es hatte sogar eine Auswanderungswelle gegeben.Viele Menschen zogen in die Grenzbezirke, dorthin, wo Industrie und Gewerbe eine neue Heimat gefunden hatten und Familien die Grundstücke bezahlen konnten. Das Zentrum mit seinen mehrstöckigen Mietskasernen kam einem am Abend oftmals wie eine Geisterstadt vor. Kein gutes Revier, um auf die Jagd zu gehen. Der Wolf mochte es, wenn seine Umgebung vor möglichen Fährten vibrierte, wenn seine Wege erfüllt waren vom Rhythmus schlagender Herzen. Außerdem gehörte dem Rudel gerade mal ein Dutzend Wölfe an. Es war, als befände sich der Dämon, der sie alle beseelte, in dieser Stadt auf dem Rückzug, als hielte ihn das dahinsiechende Revier davon ab, sich weiterhin mit den Menschen zu verbinden.
    Piroschka, ihre Anführerin, spielte mit dem Gedanken, die Stadt zu verlassen.Wer zurückbleiben wollte, sollte sich einem der anderen Rudel anschießen, die sich noch im Schatten der Stadt herumtrieben. Einige - unter ihnen auch Nathanel - durchschauten diesen Gedanken als das, was er war: ein Zeichen von Schwäche. Eine Anführerin, die ihr eigenes Rudel aufzulösen bereit war, hatte versagt. Anstatt den Platz zu räumen, war sie eher gewillt, das Rudel zu zerstören. Doch die Tage waren schwer und das Rudel klein.
    In den Jahren seit diesem Sommer, in dem sich die Hitze wie eine bleierne Decke über die Stadt legte und sie noch lebloser als sonst erscheinen ließ, hatte sich Nathanel immer wieder gefragt, warum er damals nicht die Rolle des Anführers einforderte. In ehrlichen Momenten musste er sich jedoch eingestehen, dass er nicht dafür geschaffen war. Er war ein Mann der zweiten Reihe, ihm fehlte jene Begabung, einen Schritt nach vorne zu tun und die anderen mitzureißen. Er hatte stets fest daran geglaubt, dass es einem Rudel am besten bekam, wenn es vom stärksten Wolf geleitet wurde. Nur, dass in diesem Sommer nicht der stärkste Wolf nach der Macht griff und gewann.
    Als Piroschka das Rudel zusammenrief, dämmerte es bereits. Trotzdem glitzerte der Belag des abseitsliegenden Sportplatzes noch immer. Aufgeweicht von der Hitze des Tages blieb er an den Sohlen kleben und vermischte sich dort mit dem allgegenwärtigen Staub der Stadt.
    Nathanel war einer der Letzten, die eintrafen. Sein Nacken brannte von der Sonne, und das Hemd klebte ihm verschwitzt am Rücken. Er war den ganzen Nachmittag umhergelaufen, obwohl sich bei der Hitze nicht einmal mehr die Kinder unter den Fontänen der Hydranten vergnügen wollten.Aber die Unruhe, von der die Stadt ergriffen war, hatte sich mit seiner eigenen verbunden, so dass er es einfach nicht ausgehalten hätte, irgendwo zu verharren. Als Piroschkas Ruf ihn schließlich erreichte, hatte er einen Moment lang gezögert. So weit war es also schon gekommen.
    Obwohl Nathanel spürte, dass Piroschka ihn neben sich haben wollte, blieb er in der letzte Reihe. Bei diesem Tribunal wollte er nicht neben ihr stehen. Ihre Nähe war ihm verleidet, seit sie von den Plänen, die Stadt zu verlassen, zu reden begonnen und nicht wieder aufgehört hatte. Zwar wusste Nathanel, dass ihm die Rolle des enttäuschten Liebhabers nicht gut zu  Gesicht stand, aber er konnte einfach nicht aus seiner Haut - für ihn kam das Schicksal des Rudels an erster Stelle. Wenn Piroschka das anders sah, brauchte sie einen anderen Mann an ihrer Seite.
    Kaum hatte Nathanel seinen Platz eingenommen, scharten sich einige Rudelmitglieder um ihn, während die Anführerin mit den bereits früh ergrauten Strähnen im Haar abseits dastand. Der Bruch zeichnete sich immer stärker ab, aber er kratzte nicht an Piroschkas Selbstbewusstsein. Sie kannte Nathanel gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht nach der Rolle des Anführers sehnte. In ihren Augen war er keine Herausforderung, sondern Ballast, den sie auf ihrer Suche nach neuen Pfründen

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