Wintermond
nimmst mein Urteil also an.Wir werden es vollstrecken - hier und jetzt.«
Scheinbar abwartend, sah Piroschka auf Hagen herab, doch der Schatten tanzte bereits über ihrer hellen Haut. Jeden Augenblick würde sie zuschlagen.
Plötzlich durchschnitt ein Ruf die Stille. »Warte! Du kannst Hagen doch nicht einfach töten, bevor er die Tat nicht gestanden hat.« Convinius’ Stimme bebte vorVerzweiflung, als er aus dem Kreis hervortrat. Es sah so aus, als wolle er zu seinem Freund gehen, sich vielleicht sogar vor ihn stellen. Doch dann blieb er einfach nur stehen, vollkommen verwirrt über das eben Gehörte, noch unfähig, es zu begreifen. »So etwas würde Hagen niemals tun.Vielleicht hast du dich getäuscht.«
Piroschka brauchte nicht lange, um eine Antwort zu finden: »Nein.« Dann rief sie ihren Wolf: Der Schatten vibrierte im Dämmerlicht und trat auf Hagen zu, der nun mit willig gesenktem Kopf dakniete, als erwarte er sein Ende mit Sehnsucht. Doch ehe Piroschkas Wolf die Reißzähne in Hagens Nacken versenken konnte, wurde er selbst von einem Schemen angefallen und zu Boden geworfen.
Nathanel stand wie erstarrt da, unfähig zu begreifen, was Convinius soeben getan hatte: Er hatte seinen Wolf gesandt, um Piroschka aufzuhalten. Doch das konnte nicht sein! Von wem hatte der Junge bloß diese Fähigkeit erlernt? Während seine gesamte Aufmerksamkeit auf den vor Anstrengung zitternden Convinius gerichtet war, zu dessen Füßen die kämpfendenWölfe zu einem undurchsichtigen Schatten verschmolzen, sprang Hagen auf Piroschka zu. Der überraschten Frau gelang es nicht einmal mehr, die Hände zur Abwehr hochzureißen. Sie schlug der Länge nach hin, und sogleich umfasste Hagen ihren Kopf und schlug ihn mit brachialer Kraft auf den Asphalt. Zwei dumpfe Aufschläge drangen zu Nathanel durch, der dritte wurde vom Knacken der Schädelknochen begleitet. In diesem Moment durchfuhr das gesamte Rudel die Gewissheit, dass ihre Anführerin tot war.
Das Chaos, das anschließend ausbrach, bekam Nathanel nur wie durch einen Nebel mit. Er registrierte gerade noch, wie sich seine Finger in Hagens T-Shirt krallten, an dem er den jungen Mann hochriss, um ihm sofort einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Dann geriet hinter seiner Stirn alles durcheinander - die Nachwirkung der Leere, in die der Dämon ohne einen Anführer zu stürzen drohte. Das letzte Wehklagen von Piroschkas Wolf, als dieser sich von seiner Hüterin verabschiedete, brach ihm fast das Herz.
Als er wieder zu sich kam, sah er, wie Hagen am Boden kauernd an den Folgen des erzwungenen Rituals litt und Convinius neben ihm Wache hielt.Aber keines der Rudelmitglieder hätte es gewagt, sich Convinius entgegenzustellen. Der Respekt vor ihm war zu groß.
Mit aschgrauem Gesicht richtete sich Hagen endlich auf, und sein Freund trat hinter ihn.
»Wir werden nie wieder über diesen Vorfall sprechen«, sagte Hagen mit heiserer Stimme, und beinahe das ganze Rudel nickte zustimmend. »Piroschka ist tot, also wird es keine weiteren Leichen in unserem Revier geben. Wir bleiben hier, unauffällig in den Schatten.«
Nathanel wollte schon Einspruch erheben, aber dann wurde er von der Vereinigung des Rudels mitgerissen, das seinen neuen Anführer angenommen hatte. Wie hätte er sich da als Einziger widersetzen können? Er warf einen letzten Blick auf Piroschkas Leichnam, unter dessen Kopf sich die dunkle Lache immer weiter ausbreitete. Er kniete neben ihr nieder, um ihre Augen zu schließen, und in ihm siegte die Überzeugung, dass die Führungsspitze dem Stärksten gehörte. Ob dieser sich seinen Platz durch eine List erschlichen hatte, diese Frage stellte er sich nicht.
Nur einer von ihnen vergaß nicht, Hagen diese Frage zu stellen: Convinius. Nachdem sich das Rudel, erschöpft von dem Schrecken der letzten Stunden, in seine Verschläge zurückgezogen hatte, trat er neben seinen ungewöhnlich gelassen wirkenden Freund. Nathanel, der die Szene aus einiger Entfernung beobachtete, war trotzdem nicht der Zug auf Convinius’ Gesicht entgangen. Dieser Junge glaubte, das Richtige getan zu haben, als er seinem unschuldigen Freund zu Hilfe gekommen war, und er wollte es auch hören.
»Piroschka hatte sich geirrt, nicht wahr?«
Ohne Zögern erwiderte Hagen seinen Blick. »Wenn man an der Spitze stehen will, muss man stärker sein als die anderen. Man muss seinen Wolf stärken, ihm etwas bieten«, erwiderte er ruhig. Dabei versuchte er, Convinius einen Arm um die Schultern zu legen, als
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