Wintermond
ab.
David keuchte auf und sah seinen Angreifer voller Entsetzen an: In Nathanels blau strahlenden Augen triumphierte nicht etwa der Dämon, sondern Todessehnsucht war dort zu lesen. Für einen Herzschlag vergaß David seinen tobenden Wolf, denn mit einem Schlag begriff er, wie Nathanel ihn für den Kampf mit Hagen rüsten wollte. Der ältere Mann wollte sich opfern. Mehr als diesen Moment der Nachlässigkeit brauchte der Dämon nicht, um sich loszureißen und seine Schattengestalt anzunehmen.
Ein Lächeln breitete sich auf Nathanels Gesicht aus, während er von dem jungen Mann abließ und sich aufrichtete. Eine Sekunde später zerriss Davids Wolf ihm die Kehle.
David war vor Entsetzen außerstande, sich zu rühren, und musste zusehen, wie Nathanel nach hinten überkippte. Er hörte den Aufschlag des Körpers auf die Dielen, registrierte, wie das Herz noch schlug, während die Lungen bereits in sich zusammenfielen. Dann kehrte sein Wolf zu ihm zurück, und David stieß einen Schrei aus, der erst endete, als er vollends in den Schatten versunken war.
Kapitel 30
Im Netz
Hinter den großen Fenstern, die die Stirnseite des Restaurants einnahmen, konnte man einen weiteren Versuch des anstehenden Winters beobachten, die letzten Spuren von verfärbtem Laub zu tilgen. Der raue Wind scheuchte Schneeflocken über das Wasser im Hafen, so dicht, dass das kleine Motorboot, das gerade von einem Frachter abgelegt hatte, kaum mehr als ein Schemen war. Die Wasseroberfläche spiegelte den grauen Himmel, und sämtliche Farben waren aus der Welt dort draußen gewichen. Das kräftige Rot, in dem das Restaurant eingerichtet war, sowie die vielen plaudernden Gäste und der aufregende Duft der arabischen Gerichte, die hier serviert wurden, änderten nichts an diesem tristen Eindruck.
Meta konnte den Blick nicht von den umherjagenden Schneeflocken nehmen, die eine betäubende Wirkung auf sie hatten. Als Laila endlich mit einem Tablett zurückkehrte, auf dem zwei Tees in filigranen Gläsern und eine Schale mit Datteln Platz gefunden hatten, flackerte das Spiel der weißen Tupfer vor ihrem inneren Auge noch einige Sekunden nach. Meta blinzelte angestrengt, und Laila schenkte ihr ein warmes Lächeln, wobei sich die Linien um ihre Augen vertieften, ohne ihre Schönheit zu mindern. Ihre Haut schimmerte in einem Ton, wie wenn man Sahne mit geschmolzener Schokolade verrührt: hell und dunkel zugleich.
»Um die Zeit habe ich auch immer einen Durchhänger«, sagte Laila und schüttete die Hälfte der Zuckerdose in ihr Teeglas. »Das hier wird uns beiden wieder auf die Sprünge helfen.«
Meta brauchte einen Augenblick, bis sie sich sicher war, ihre Stimme unter Kontrolle zu haben. »Was für Gewürze mischen die denn in den Tee? Der duftet fantastisch.«
»Keine Ahnung, aber sie wissen auf jeden Fall, was sie tun.«
Erneut vertieften sich die Lachfältchen. Dieses Mal gelang es Meta sogar, das Lächeln zu erwidern. »Es freut mich, dass wir es endlich einmal geschafft haben, uns zu treffen, und nicht immer nur darüber zu reden«, sagte sie und meinte es auch so.
Die beiden Frauen hatten sich vor Monaten auf einer Vernissage kennengelernt und sich sofort sympathisch gefunden. Laila arbeitete für eine der benachbarten Galerien. Heute erst hatte Meta herausgefunden, dass diese vielleicht vierzigjährige Frau nicht nur über einen ausgesprochen vielschichtigen Kunstgeschmack verfügte, sondern auch ein wahrhaft aufregendes Leben geführt hatte: zwei kurz vor dem Abschluss abgebrochene Studiengänge, weil ihr das Fach plötzlich langweilig erschienen war, Erfahrungen als Barkeeperin, Reiseleiterin, pleitegegangen mit einem Internet-Auktionshaus für Gegenwartskunst, und dann noch ein Kind, das eine Hochbegabtenschule besuchte. Also ordentlich Stoff zum Erzählen - was Laila auch sehr gern und freimütig tat.
Unter anderen Umständen wäre Meta von einer solchen Lebensgeschichte vermutlich zwischen Begeisterung und Staunen hin- und hergerissen gewesen, aber heute war sie einfach zu erschöpft. Seit David vor zwei Tagen fortgegangen war, stand sie trotz Rahels Hilfe vollkommen neben sich. Deshalb war sie über dieses spontane Mittagessen auch sehr froh gewesen.
Laila hatte sich mit einem Kunden unterhalten, der vor kurzem ein Bild bei Meta ersteigert und begeistert von ihrem Kunstverstand geschwärmt hatte. Daraufhin hatte sie kurzerhand beschlossen, einfach in der Galerie vorbeizuschauen und Meta zum Essen einzuladen.
Eve, die Laila
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