Wintermond
er brauchte es nicht, um diesen Mann zu überwältigen.
Noch ehe der Schatten sich über seiner Haut ausgebreitet hatte, stürzte David los. Doch Hagen hatte bereits Anlauf genommen und sprang durch das zerbrochene Glas hinaus ins Freie. Fluchend jagte David hinter ihm her. In seinem Rücken brach inzwischen das Chaos aus, weil Hagens Rudel endgültig in zwei Parteien zerfiel. Ein Kampf entflammte, in dem die von Leug Angeführten ihre Minderheit durch Brutalität wettmachten - was jeder zu spüren bekam, der sie daran hindern wollte, ihrem Anführer zu folgen. Offensichtlich gingen sogar Hagens Getreue davon aus, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte, zumindest nicht unter fairen Voraussetzungen. Darum wollten sie ihm um jeden Preis folgen und ihm Unterstützung leisten, damit er weiterhin ihr Anführer blieb.
Meta stand auf der Spitze des Stegs und blickte voller Entsetzen auf die plötzlich ausgebrochene Gewalt. Auf den Rängen, kaum noch erkennbar im unsteten Schein der Feuerbecken, die mehr Rauch als Licht spendeten, prügelten Menschen aufeinander ein, rissen sich zu Boden, brüllten und schlugen wie wild um sich. Einige wenige befreiten sich aus dem Tumult und sprangen in das Becken, wo sie von anderen mit roher Gewalt niedergestreckt wurden.
Nur einem gelang es schließlich, sich zu befreien, und als er mit zerrissener, blutbefleckter Kleidung Hagen und David hinterherhetzte, erkannte Meta, dass es sich um den Mann handelte, der Hagen bei ihrer Entführung geholfen hatte. Jemand hatte ihm die dunkle Brille von der Nase gerissen, und seine Augen zeigten sich in einem milchigen Blau. Er ist blind, begriff Meta.Vermutlich sieht er nur durch die Augen des Dämons. Aber das würde ihn nicht daran hindern, seinem Anführer zu Hilfe zu eilen, obwohl das gegen sämtliche Regeln verstieß.Wenn sich ihm die Chance bot, würde er David hinterrücks anfallen. Ohne zu zögern, begann Meta, die Räume in ihrem Inneren zu öffnen, um dem Dämon dieses Mannes einen Unterschlupf zu gewähren. Doch in dieser Sekunde wurde sie bei der Schulter gepackt und herumgezerrt. Eine hochgewachsene Frau mit feuerrotem Haar, das ihr wie ein Flammenkranz vom Kopf abstand, erzwang ihre Aufmerksamkeit.
»Vergiss Leug, mit dem wird David schon fertig. Du musst jetzt etwas tun, bevor Hagens Rudel sich untereinander zerfleischt. Beruhige sie!«, forderte sie, gegen den Lärm in der Arena anbrüllend.
Meta starrte sie regungslos an. Wie sollte sie dieser Frau klarmachen, dass sie kaum wusste, was sie tat? Einen Wolf beheimaten - das mochte ihr gelingen. Aber gut drei Dutzend auf einmal? Sie konnte hören, dass einige der Wölfe ein verzweifeltes Heulen ausstießen, woraufhin der eine oder andere Hüter in der tobenden Menge anfing, sich an Haut und Haaren zu reißen. Wahrscheinlich, um das überwältigende Durcheinander, das in ihnen ausgebrochen war, abzustreifen. Nur mit Mühe konnte Meta dasVerlangen unterdrücken, sich die Hände auf die Ohren zu legen in der Hoffnung, den Druck, der sich innerhalb des zerfallenden Rudels ausbreitete, ausgleichen zu können.
»Verdammt.« Kurzerhand rüttelte die Frau Meta durch. »Tu einfach, was du vorhin getan hast.Als du die verdammte Glaskuppel pulverisiert hast!«
»Ich weiß nicht, wie«, brachte Meta kläglich hervor.
Die Finger der Frau bohrten sich schmerzvoll in ihre Oberarme, dann legte sich ein Schatten über ihre Züge. In der nächsten Sekunde formte der Schatten einen Wolfskopf, der Meta mit weit aufgerissenem Maul bedrohte. Instinktiv wich sie zurück und rief vor Schreck den Wolf der Frau zu sich, indem sie die Türen zu ihren inneren Räumen aufriss. Während der Wolfsdämon einen Herzschlag später durch sie hindurchjagte, blickte Meta in die blauen Augen dieser Fremden, in denen sie etwas Vertrautes zu erkennen glaubte. Was auch immer es war, es brachte sie zu der Entscheidung, die Türen nicht wieder zu schließen. Stattdessen rief sie Hagens führerlos gewordenes Rudel und erhielt sofort eine Antwort. Der Ansturm der Wölfe, der auf ihren Ruf folgte, übermannte sie. Meta versuchte standzuhalten, aber sie ging verloren in einem Strudel aus Gefühlen und Eindrücken, die nicht ihr gehörten.
Kapitel 37
Treibjagd
Das Geräusch der zersplitternden Eisschicht, mit der der einsetzende Frost den regennassen Grund überzogen hatte, klang in Davids überempfindlichem Gehör wie eine Drohung. Unter der frischen Schneeschicht lagen Laub und Geäst, die sich im Handumdrehen
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