Wintermond
Ablenkung fand.
Nachdem David diesen Entschluss gefasst hatte, spürte er eine Empfindung in sich aufsteigen, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Er hatte sie in den letzten Jahren immer wieder einmal erlebt, in den letzten Wochen sogar häufiger. Doch heute ließ sich das diffuse Schamgefühl nicht so leicht niederringen wie sonst. Während er Janniks Fährte aufnahm, quälte es ihn unablässig und fragte ihn flüsternd, wie lange es ihm noch gelänge, die Stärke seines Wolfes zu verbergen.Wie lange er es wohl noch aushalten könnte, sich selbst zu verleugnen und sich von den anderen Rudelmitgliedern gängeln zu lassen. Wann er schließlich daran zerbrechen würde. Heute noch nicht, hielt David mit aufeinandergepressten Zähnen dagegen und schritt schneller aus.
Kapitel 9
Familienbande
Die Deckenstrahler waren so raffiniert ausgerichtet, dass man fast glaubte, in einen sonnenüberfluteten Himmel zu blicken, über den sich dralle Engelchen räkelten und an ihren Harfen zupften. Dabei war die gewölbte Decke des Dea bestenfalls fünf Meter hoch. Meta kam einfach nicht dahinter, bei wem der Besitzer des Restaurants diese Deckenarbeit in Auftrag gegeben hatte. Allerdings war es ohnehin viel interessanter, wer diese perfekte Beleuchtung installiert hatte. Diesen Menschen müsste man in die Finger kriegen, damit er sich einmal der Galerie annahm. Im Augenblick waren die Lichtquellen dort so ungünstig ausgerichtet, dass die allgegenwärtigen weißen Fliesen stark spiegelten und von den Exponaten ablenkten.
Bevor Meta diesen Gedanken weiterspinnen konnte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Der Geräuschpegel im Restaurant hatte sich verändert. Meta wandte den Blick von der Decke ab, wobei ihr schmerzender Nacken verriet, wie lange sie schon das unerreichbare Paradies angestarrt hatte, und schaute in die Gesichter ihrer Familie.
Ihr Bruder Georg war mit seiner Frau Antonia auf Reisen, was jedoch keinen großen Verlust für die Runde darstellte. Wenn Georg nicht über Finanzdinge sprechen konnte, redete er lieber gar nicht. Trotzdem war es Antonia nach drei Jahren Ehe immer noch nicht gelungen, sich im Familienkreis Gehör zu verschaffen.Vermutlich war es schade darum, denn Meta dachte, dass ihre von Schüchternheit geplagte Schwägerin einen süßen Kern enthielt. Aber Georg bewachte seine Frau genauso herrisch wie alle anderen Privilegien, die er sich im Schweiße seines Angesichts verdient hatte. Daher hatte Meta bislang keine Chance gehabt, Antonia besser kennenzulernen.
Gegenüber Meta saß ihre Mutter Elise, deren äußere Erscheinung sie und ihre Schwester geerbt hatten: eine anmutige Gestalt mit ungewöhnlich gleichmäßigen Gesichtszügen und naturblonden Haaren.Von ihrer Mutter hatte Meta außerdem gelernt, wie man achtsam Kalorien zählte, da der von der Natur geschenkte ätherische Körper auf keinen Fall ruiniert werden durfte. Nur mit hervortretenden Wangenknochen, schmalen Schultern und kantigen Handgelenken gelang es einem, sich von der Masse abzusetzen.
Es brauchte einen Moment, bis Meta begriff, dass der dezent geschminkte Mund ihrer Mutter geschlossen war - das hatte sie also aus ihren Gedanken geholt. Elise hatte ihren detaillierten Bericht über den Wochenendausflug an die Küste unterbrochen, weil ein bekanntes Ehepaar samt Nachwuchs das Dea betreten hatte. Der vielleicht vierzehn Jahre alte Sohn hatte sich die Hälfte seines Schädels kahlrasiert. Es sah ganz so aus, als wäre seine Mutter mitten in der Prozedur ins Badezimmer geplatzt und habe ihm den Rasierapparat entrissen. Die andere Seite des Kopfes zierten nämlich halblange dunkelblonde Locken.
Elise schien dermaßen in ihre Beobachtung vertieft zu sein, dass sie ihren kleinen Vortrag einfach vergessen hatte - wie auch das Risotto und ihre schweigende Familie. »Nathalia sollte diesem Bengel einfach jeden Abend ein Sedativ auf seine Pizza streuen, das würde ihr viel Ärger ersparen. Ich werde das ihr gegenüber bei Gelegenheit einmal andeuten«, sagte Elise selbstversunken, während ihre Fingerspitzen die Leinentischdecke glattstrichen. Sie hatte eine Schwäche für Skandale, obwohl sie es niemals zugeben würde. Zu ordinär.
Links von Elise saß ihr Ehemann, Metas Vater Lorenz, und widmete sich seinem blutigen Steak. Obwohl er schon weit in den Sechzigern war, war er ein Bild von einem Mann: groß und breitschultrig, der Haarkranz, der ihm geblieben war, immer noch dunkel. Alles an ihm wirkte beeindruckend, von seiner
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