Wintermond
Stimme über seinen Familienstammbaum bis hin zu seinem Bankkonto. Die Mensch gewordene Verkörperung des Wortes stattlich. Manchmal hatte Meta den Verdacht, dass er sich unter all den jungen Frauen, die ihm - laut ihrer Mutter - damals verliebte Augen gemacht hatten, Elise auswählte, weil sie mit ihrer zierlichen Figur und ihrem vordergründig zerbrechlichen Wesen seine Stattlichkeit noch unterstrich. Denn auch seine Eitelkeit zeigte gelegentlich beachtliche Ausmaße, die er jedoch durch seinen trockenen Humor wieder ausglich. Wie immer, wenn ihre Eltern nebeneinandersaßen, staunte Meta darüber, wie unterschiedlich die beiden waren und wie perfekt sie einander ergänzten.
Lorenz spürte Metas Blick und deutete auf die Schale mit Rosmarinkartoffeln, die vor ihm stand. »Nimm dir ruhig welche«, bot er an, dann galt seine Aufmerksamkeit wieder dem Steak.
Hastig wandte Meta den Blick von den appetitlichen Kartoffeln ab. Rechts von ihr saß ihre jüngere Schwester Emma, in der einen Hand die Gabel mit einem Stückchen Huhn, während die andere Hand unter dem Tisch unablässig die in der Schachtel verbliebenen Zigaretten durchzählte. Dabei lag die schon arg zerfledderte Verpackung auf ihrem nackten Oberschenkel. Ihr Kleid war so weit nach oben gerutscht, dass nicht einmal der Kellner es übersehen konnte, der ihr gerade Wasser nachschenkte.
Wie schon so oft fragte Meta sich, wie viel von Emmas Attitüde inszeniert war und was als unschuldig durchgehen konnte. Der geistesabwesende Blick, mit dem Emma durchs Leben schritt, wies auf Letzteres hin, doch je mehr Zeit Meta mit ihrer Schwester verbrachte, desto unsicherer wurde sie diesbezüglich. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, war es Meta nie gelungen, ihrer Schwester nahezukommen. Damals hatte sie es auf den Altersunterschied von fast acht Jahren geschoben, wenn Emma alle Annäherungsversuche mit einem gelangweilten Achselzucken abgetan hatte. Sie hatte diese Zurückweisung einfach akzeptiert, vor allem, da es dem Rest der Familie genauso erging.
Später hatte Meta dann herausgefunden, dass es sehr wohl möglich war, Emma zu begeistern. Zum Beispiel, wenn irgendwelche Schulkameraden die schwülstigen Tagebucheinträge ihrer großen Schwester vortrugen. Das hatte Emma gefallen, doch Metas Zorn und wüsten Beschimpfungen waren wiederum einfach spurlos an ihr abgeprallt. So hatte Meta sich auch noch für ihre Tränen geschämt, weil sie ihre Hilflosigkeit bewiesen.
Aus diesem Grund glaubte Meta in manchen Momenten auch, dass die scheinbar so ehrgeizlose und oft apathisch wirkende Emma in Wirklichkeit ein durchtriebenes Luder war, das sein Vergnügen in Gemeinheiten fand. Dieser Eindruck hatte sich verstärkt, nachdem sie Emma als junge Erwachsene einige Male außerhalb des familiären Rahmens erlebt hatte.
Der Gedanke an die Galerieeröffnung vor drei Jahren trieb Meta noch heute die Schamesröte ins Gesicht. Emma vertrieb sich die Zeit in einer Nische mit einem Maler und bemühte sich dabei nicht sonderlich, den Quickie vor den anderen Gästen zu verbergen. Die Frau des Künstlers war weiß wie die Kacheln der Galerie geworden, als sie begriff, wer sich dort so schamlos aufführte. Sie sagte weder ein Wort, noch rührte sie sich, bis ihr Mann sie mit erhitztem Gesicht ruppig am Ellbogen fortführte. Schon ein paar Stunden später waren alle Arbeiten dieses Künstlers verkauft gewesen. Rinzo rieb sich vor Begeisterung die Hände. Emma antwortete auf Metas empörte Frage, was sie sich dabei bloß gedacht habe: »Die Nummer war mehr Kunst als dieser ganze Scheiß hier.«
Karl amüsierte sich damals bestens über diese Dreistigkeit. Als Emma jedoch später einmal bei einem Essen mit gemeinsamen Bekannten behauptete, dass Karl in seinem Leben immer Höchstleistungen anstrebte, weil sein bestes Stück zu klein geraten sei, packte er sie so grob am Oberarm, dass Emma überrascht aufschrie. Wenn es um seine Ehre ging, verstand Karl keinen Spaß.Trotzdem hielt Meta sich zurück, als er ihre Schwester daraufhin als »verlogenes Miststück« beschimpfte. Denn sie hatte das Gefühl, dass Emmas Worte nicht so sehr Karl vorführen, sondern sie brüskieren sollten. Sie sollte genau wissen, dass es ein Leichtes für ihre Schwester war, die tatsächliche Größe von Karls bestem Stück herauszufinden. Offensichtlich fand Emma Gefallen daran, Meta zu demütigen.
»Wie geht es Karl eigentlich?«, fragte Emma in diesem Moment mit ihrer stets gelangweilten Stimme. Mit einem
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