Wintermond
mittlerweile so etwas wie ein verschwommenes Traumbild geworden, über das sie sich bei Tag den Kopf zerbrach und das ihr nachts das Bett wärmte.
»Meta-Schatz.« Lorenz’ brummige Stimme riss sie aus den Gedanken. Sie warf ihrem Vater einen scheuen Blick zu, den dieser mit einem ermunternden Lächeln erwiderte.Wenn ihr Vater sich dazu herabließ, auf dieses Thema einzugehen, dann war es ernst. »Du weißt, dass Karl mir persönlich herzlich gleichgültig ist, aber um dich mache ich mir Sorgen. Du siehst in der letzten Zeit mitgenommen aus und bist seltsam unausgeglichen. Wenn dein Zustand nicht darauf zurückzuführen ist, dass du dich in einen anderen Mann verliebt hast, dann … Vielleicht fehlt Karl dir doch mehr, als du dir eingestehen magst.«
Meta blinzelte, während ihre Mutter beipflichtend nickte. Als Elise sich anschickte, ihre Hand über den Tisch auszustrecken, um ihre Tochter tröstend zu berühren, stand Meta so schnell auf, dass sie die Tischplatte anstieß und Emmas volles Wasserglas umkippte. Den Moment allgemeiner Verwirrung nutzend, entschuldigte sie sich und gab vor, ebenfalls in Richtung Toiletten zu entschwinden.
Stattdessen bog sie zur Bar ab, sah allerdings gerade noch rechtzeitig ihre Freundin Marie samt Ehemann und einigen Bekannten dort stehen. Nach einem wenig eleganten Schlenker hielt sie auf die Vorhalle des Restaurants zu, ignorierte den Türsteher, der ihr verwundert die Tür aufhielt, und trat ins Freie. Der frische Herbstwind begrüßte stürmisch ihre nackten Arme und Beine und trug den Geruch von Tabak zu ihr her.
Emma saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Brüstung, in der einen Hand eine brennende Zigarette, in der anderen ein halbvolles Glas. Ohne ein Wort zu verlieren, nahm Meta es ihr aus der Hand und stürzte den goldfarbenen Inhalt in einem Zug hinunter. Der Whiskey brannte ihr in der Kehle und half, ihre angespannten Nerven ein wenig zu beruhigen. Emma sah ehrlich überrascht aus, denn ein solches Verhalten passte einfach nicht zu ihrer selbstbeherrschten Schwester.
»Was sollte der dumme Spruch, dass es Karl supergut geht?« Statt einer Antwort zuckte Emma lediglich mit den Schultern. Doch Meta verspürte keine Lust, ihr diesen Seitenhieb einfach durchgehen zu lassen. Dafür hatte Emma in den letzten Jahren zu oft ausgeteilt, ohne selbst einzustecken. »Sorgst du dafür, dass es Karl supergut geht?«
»Ach, Blödsinn«, sagte Emma betont gleichgültig. In einem Bogen schnipste sie die Zigarettenkippe gegen die edle Eingangstür aus poliertem Olivenholz. »Was soll Karl denn mit mir anfangen? Der steht doch nur auf sich selbst.«
»In der Hinsicht würdet ihr beide allerdings hervorragend zusammenpassen«, sagte Meta und drückte ihr das leere Whiskeyglas in die Hand. Dann kehrte sie ins Restaurant zurück.
Erneut glitt Metas Zeigefinger über ihre Notizen.Vor einigen Tagen hatten sie vier Arbeiten eines Künstlers namens Ziegler ausgestellt, der neu mit ihnen zusammenarbeitete, und es lagen schon erste Anfragen für drei Bilder vor. Dafür hatte sie im Vorfeld ordentlich Überzeugungsarbeit leisten müssen. Nun würde sich zeigen, ob die Verhandlungen eine Eigendynamik entwickelten und die Preise damit in die Höhe trieben, oder ob das Ganze sich als Rohrkrepierer erwiese.
Eine andere Galerie hatte es bereits mit einigen seiner Arbeiten über »Körper und Formen in Bewegung« versucht und war - gelinde ausgedrückt - wenig erfolgreich gewesen. Dann hatte sich Rinzo des Malers angenommen, und dank seiner neuen Muse hatte Ziegler eine erstaunliche Wandlung hingelegt: Aus dem Studenten der Malerei, der in der Tasche ein Empfehlungsschreiben seines Professors und den Kopf voll mit Theorie und Kunstgeschichte hatte, war quasi über Nacht ein waschechtes Individuum geworden, der Cheap-Art auf geklauter Tonpappe verewigte. Punk sells - besonders wenn man es mit einer durch und durch bürgerlichen Klientel zu tun hatte. Da regnete es gewöhnlich Banknoten. Was Rinzos Gespür für Geld anbelangte, so war das noch legendärer als sein Auge für Talent.
Während Meta das Notizbuch schloss, überkam sie ein schlechtes Gewissen. Zwar hatte sie für Zieglers Pseudo-Dilettantismus, wie sie dessen Arbeiten insgeheim nannte, getan, was man von ihr erwartete, aber auch keinen einzigen Handschlag mehr. Während sie Kaufwilligen gegenüber Zieglers spektakulären Ansatz betonte, wunderte sie sich insgeheim, dass anscheinend niemand bemerkte, wie sie vor
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