Wintermond
mit Nathanel konnte man so etwas nicht machen: Zum einen wirkte sein vom Schlaganfall gezeichneter Körper zu zerbrechlich für eine körperliche Auseinandersetzung, zum anderen wusste David nur allzu gut, dass er diesem Mann nicht gewachsen war. Das hatte sein eigener Wolf ihm vorhin ohne Zweifel deutlich gemacht, als der Schatten ihn an der Kehle gepackt hatte: Nur ein unterwürfiges Wimmern war zu hören gewesen. Außerdem war allein die Kraft hinter dem Biss des Schattenwolfes, mit dem Nathanel ihn zur Räson gebracht hatte, mehr als eindeutig gewesen. Noch immer brannten die Stellen, wo sich die körperlosen Reißzähne drohend an seine Haut gelegt hatten. Nathanel hatte ihn wie einen ungezogenen Welpen gepackt, und er nahm ihm diese demütigende Geste übel. Allerdings vergaß er darüber nicht den tief empfundenen Respekt gegenüber dem älteren Mann.
»Wie fandest du Parlas’ Reaktion?«, wechselte Nathanel das Thema und blinzelte den Regen aus den Augen.
»Keine Ahnung«, erwiderte David, obwohl ihm sehr wohl eine Meinung dazu durch den Kopf ging. Aber er würde sich hüten, sie Hagens rechter Hand zu verraten.
Nathanel sah ihn prüfend an, und David hätte ihn dafür am liebsten angeknurrt. Dann verzog Nathanel seinen schiefen Mund zu einem wissenden Grinsen, er verkniff sich jedoch einen Kommentar. »Das Ganze interessiert dich also nicht weiter«, sagte er stattdessen. »Eigentlich hätte ich vermutet, dass du ein Vertreter des Gleichgewichts bist.«
»Welches Gleichgewicht?«
»Zwischen den Rudeln«, gab Nathanel geradeheraus zurück. »So empfinden doch die meisten von uns in der Tiefe ihres Herzens.Wir neigen zur Bescheidenheit. Darum ist Hagens Vorstoß ja auch so verwirrend. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sascha eine Weile brauchen wird, bis er die Ausmaße der Veränderungen tatsächlich begreift. Er ist zwar auch nicht gerade ein Herzchen und ziemlich verbohrt in die Idee, dass das Recht immer auf der Seite des Stärkeren ist. Aber Hagens Pläne sind viel zu abwegig für einen Wolf, als dass er sie erraten könnte. Und dieser Parlas wird sich jedenfalls schwer damit tun, es ihm begreiflich zu machen.Viel zu überreizt, der Mann. Wenn der anfängt, nach Angst zu riechen, nimmt ihn niemand mehr ernst. Darüber muss man sich schon so seine Gedanken machen, denn ein Ungleichgewicht zwischen den Rudeln könnte schlimme Folgen haben.«
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte David, der eine ernstzunehmende Beunruhigung in sich aufsteigen fühlte. Er wollte nicht in diese politischen Dinge hineingezogen werden, wollte am liebsten nicht einmal etwas davon wissen. Sein Leben war kompliziert genug.
»Ach, ich rede nur so vor mich hin, weil ich besorgt bin.« Nathanel schaute gedankenverloren in die Luft und schien den unsicheren Ton in Davids Frage absichtlich zu ignorieren. »Ich will einfach nur, dass Sascha begreift, was auf ihn zukommt. Du weißt ja, was passiert, wenn man einen Wolf zu ungestüm in eine Ecke drängt: Er beißt um sich und richtet damit unnötig viel Unheil an. Parlas ist ein Schlappschwanz, der kriegt Sascha garantiert nicht dazu, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen. Eigentlich sollte jemand mit Maggie reden, schließlich geht es um ihre Straßen.Wenn es zu einem Kräftemessen kommt, wird ihr kleines Revier zum Schauplatz werden, nicht wahr?«
Einen Augenblick lang wirkten die Worte nach, doch bevor David etwas Unbedachtes herausrutschen konnte, raffte Nathanel seinen Kragen mit der rechten Hand zusammen und warf ihm einen müden Blick zu. »Wir haben getan, was Hagen uns aufgetragen hat. Ich werde jetzt zum Palais zurückgehen und etwas schlafen. Du kannst ja noch in der Stadt herumstromern. Aber treib dich besser nicht in den falschen Gegenden herum.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Nathanel sich um und ging leicht wankend davon. David blieb stehen, während die Worte durch seinen Geist wirbelten, als wollten sie ihn zwingen, eine Meinung zu alldem zu formulieren. Doch genau das wollte er mit allen Mitteln vermeiden. Hagen bestimmte die Wege des Rudels. Er würde einen Teufel tun und sich einmischen. Stattdessen würde er sich auf die Suche nach Jannik machen. Sein Kumpel wäre sicherlich für einen Zuhörer dankbar, bei dem er sich stundenlang über Amelias divenhaftes Verhalten aufregen konnte.Vielleicht hatte er auch noch gar nicht alle Aufträge für sie erledigt, so dass David ihm helfen konnte. Alles war recht, wenn er nur ausreichend
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