Wintermord
gut, du warst ... Ich glaube, du warst auch auf ein paar Partys von mir. Velvet? Magasin 12? Und du warst auch mal mit meinem Kumpel Mange zusammen, wenn ich nicht irre.«
Hanna sah aus, als wäre sie nicht sicher, ob sie sich geschmeichelt oder unbehaglich fühlen sollte.
»Ich weiß nicht mehr so richtig. Damals hat man ja alles Mögliche gemacht, da kann man sich meistens nur noch verschwommen erinnern.«
Er wieherte vergnügt und strich sich über die Bartstoppeln. »Ja, das stimmt allerdings. Und ihr wart ganz schön wild unterwegs, ihr zwei.«
»Wo finden wir Cirka?«, erinnerte ihn Seja, die langsam genug hatte. Sie war sicher, dass dieser Mann weder sie noch Hanna wiedererkannte. Wahrscheinlich hatte er sie damals schon nicht auseinanderhalten können.
Nun verschränkte er die Arme, um zu demonstrieren, dass er die Plauderei auch lassen konnte. »Wenn sie die Bücher noch hat, dann zu Hause bei sich. Entweder marschiert ihr selbst hin, dann ruf ich sie an und sag ihr Bescheid, dass ihr kommt. Oder ich bitte sie, die Bücher mitzubringen, wenn sie in ein paar Stunden hier auftaucht.«
Seja und Hanna spielten mit dem Gedanken an eine kurze Kaffeepause, doch dann beschlossen sie, lieber essen zu gehen, wenn sie ihr Tagwerk abgeschlossen, sprich, sobald sie die Gästebücher bei Cirka abgeholt haben.
Mit Hilfe der Wegbeschreibung, die der Wirt ihnen hastig auf eine Serviette gekritzelt hatte, fanden sie problemlos zu der angegebenen Adresse in Kungshöjd, nur einen Katzensprung vom Restaurant entfernt. Die schmalen Gassen und Treppen, die von der Kungsgata abgingen, führten sie zu einem Haus, das aussah, als wäre es irgendwann um die vorletzte Jahrhundertwende gebaut worden. Nachdem sie die Aussicht über Stadt und Hafen genossen hatten, klopften sie an die Haustür und wurden eingelassen.
»Ich hab die gesamte Abstellkammer auf den Kopf gestellt.«
Cirka Nemo hatte sich nur unwesentlich verändert. Sie war immer noch klein und zierlich und toupierte sich die schwarz gefärbten Haare zu einer Robert-Smith-Wolke ums Gesicht. Man hätte meinen können, dass die Kleider an ihrem dünnen Körper dieselben waren wie damals, zumindest vom Stil her: nicht mehr modern, aber irgendwie auch zeitlos. Wie die Einrichtung der winzigen Einzimmerwohnung.
»Ich habe gerade meine Omastiefel gefunden, die ich mir mit neunzehn in London gekauft hab. Schaut mal her! Obercool, oder?«
Sie hielt ein Paar knallorange Knöpfstiefel in die Höhe. Seja nickte bereitwillig, wunderte sich aber im Stillen, wie das Leben doch so spielte. Da stand sie nun zu Hause bei Cirka Nemo und wurde behandelt wie ihresgleichen. Dass Cirka sich über ihr seltsames Anliegen gar nicht wunderte, lag vielleicht daran, dass seltsame Dinge zu ihrem Alltag gehörten.
Strange things happened every day , schoss es Seja durch den Kopf. Als Jugendliche hatte sie diese Frau mit dem heiseren Stockholmer Dialekt bewundert, weil sie Autorität ausstrahlte. Obwohl neben Mädchen, die sich die Pubertätspickel auf der Stirn noch nervös mit Clearasil zuschmierten, die meisten Menschen weltgewandt aussehen mussten. Selbstbewusstsein fand sie zwar immer noch sexy, aber nachdem sie ihre Teenagerperspektive verlassen und genauer hingesehen hatte, bemerkte sie den harten Zug um Cirka Nemos Mund. Oder den muffigen Geruch einer überfüllten Mülltüte in der Küchennische.
Cirka musste doppelt so alt sein wie sie. Wenn sie nicht lächelte, zogen sich feine Linien vom Mundwinkel zum Kinn, unter dem die Haut schon erschlaffte. Ihr Haaransatz war grau und wirkte wie ein zentimeterdicker Wollstrumpf unter der schwarz gefärbten Punkfrisur.
»Die lagen ganz hinten, wo ich auch die Gästebücher vom Nordbahnhof gefunden hab. Glück gehabt, sonst wären die Dinger längst auf den Müll gewandert. Wenn man auf dreißig Quadratmetern wohnt, kann man sich solche Nostalgie nämlich nicht leisten.«
Es war offensichtlich, was sie damit meinte. Die kleine Wohnung war vollgestopft bis unter die Decke, vor allem mit Schallplatten. Ansonsten hätte man annehmen können, dass sich hier seit den Achtzigern, als Kunstseide und Pannesamt Hochkonjunktur hatten, nicht viel verändert hatte. Eine Wand war schwarz gestrichen und mit fluoreszierenden Sternen übersät. Das bisschen Platz, das nicht von der Plattensammlung beansprucht wurde, war mit gerahmten Plakaten von The Clash, Nina Hagen, The Cure, The Sisters of Mercy und Nick Cave geschmückt. Auf dem Boden lag eine Matratze und
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