Wintermord
darauf ein kleiner Stapel Notizbücher mit schwarzem Einband.
Seja erkannte sie sofort wieder.
»Ich war furchtbar verknallt in Woody.«
Hanna hatte einen so verschleierten Blick aufgesetzt, dass Seja losprusten musste. Sie waren aus dem ungarischen Restaurant geflohen, wo sich die Leute in der Mittagspause drängten, um Erbsensuppe und Eintopf mit Würstchen zu essen, und hatten sich in die Espressobar nebenan verzogen.
»Man braucht kein Genie zu sein, um das aus diesen Zeilen herauszulesen.«
Seja spielte auf mehrere Kommentare unter Woodys Zeichnungen an, die auf Hannas Konto gingen.
» Hannami . Woher kommt eigentlich das ›mi‹?«
Hanna verdrehte die Augen. »O Gott, das ist so schrecklich albern. Mit zweitem Namen heiße ich Maria, das sollte wohl eine Abkürzung sein. Ich weiß noch, dass ich mich eine Weile ernsthaft so vorgestellt habe. Ich hab sogar versucht, meinen Eintrag im Einwohnermeldeamt ändern zu lassen, aber dazu hätte man die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten gebraucht. Mama hat sich natürlich geweigert, und das war auch ganz gut so.«
»Na ja, ich sag bloß: Girl . Ich bitte dich. Schau mal hier: Deine Zeichnungen berühren meine Seele, Woody. Wenn du glaubst, dass alles sinnlos ist, dann täuschst du dich ... in the darkest hour, when you feel there is no one to comfort you ... just remember ... I am there for you ... Hannami .«
Hanna schüttelte sich mit einem verlegenen Lachen. »Wie peinlich! Damals hielt man sich ja für so tiefsinnig. Aber du musst zugeben, zeichnen konnte er.«
Schon seit Stunden ackerten sie sich durch die Bücher. Hinter dem Tresen stand die Cafébesitzerin und starrte verdrießlich auf ihre leeren Gläser. Als sie es bemerkten, bestellten sie jeder noch einen Kaffee, um sie zu besänftigen.
Das Verzeichnis der Pseudonyme hatten sie noch immer nicht gefunden, obwohl sie sich beide zu erinnern glaubten, dass auf der letzten Seite jedes Buches eine solche Liste gestanden hatte.
Das erste Buch stammte von 1991. Hier fanden sich weder von Seja noch von Hanna irgendwelche Einträge, das war noch vor ihrer Zeit. Erst im folgenden Jahr tauchten Girl und Hannami auf, zu Anfang noch sporadisch und vorsichtig, aber mit der Zeit wurden ihre Einträge immer persönlicher. Sie fanden ein paar Abschnitte, die einem offiziellen Briefwechsel oder einer politischen Debatte zwischen Seja und CRAB ähnelten. Wo er sich als Anarchist bezeichnete, sah Seja sich eher als Sozialistin. Fasziniert las sie die Zeilen.
Wir haben uns wenigstens noch Gedanken über die Welt gemacht. Sie dachte an die heutige Dokusoap-Jugend, die sich nur noch für ihr Aussehen und die Funktionen ihrer Handys interessierte. Dabei sah sie großzügig darüber hinweg, dass sie selbst mindestens genauso mit ihrem Äußeren beschäftigt gewesen waren – der einzige Unterschied bestand darin, dass zu ihrem Stil das politische Engagement gehört hatte, so wie die Musik und das Interesse an Kunst.
»Sie hat übrigens auch gezeichnet«, fiel Seja plötzlich ein. »Die mit der weißen Lederjacke, meine ich. Als ich sie damals auf dieser Party wiedertraf, hab ich ihr gesagt, dass sie immer so gut zeichnen konnte, das weiß ich noch. Schau noch mal alle Zeichnungen durch.«
Sie blätterten vor und zurück. Niedergeschlagen stellten sie fest, dass sie nur einen Bruchteil dessen in der Hand hielten, was die Besitzer bei der Schließung des Cafés am Nordbahnhof eingesammelt haben mussten. Es war sehr gut möglich, dass sie das, was sie suchten, gar nicht in diesen Büchern finden konnten, dass die Werke der weißen Lederjacke schon vor Jahren in der Mülltonne gelandet waren.
»Mann, das hätte echt mal ausgestellt werden müssen«, meinte Hanna und las ein kurzes Gedicht über unglückliche Liebe vor.
»Oder? Eine Ausstellung über die Gedanken und Gefühle von Teenagern. Über die erste Liebe, und den ersten Sex. Über den Sinn des Lebens, über Seelenqual und Glück und Gemeinschaft – ganz unzensiert. Ist doch faszinierend, oder?«
»Doch, doch. Aber du ...«
Seja zeigte auf ein Bild, das sich aufklappen ließ, wenn man das Buch in der Mitte aufschlug. Es stellte eine kurvige nackte Frau vor einem Spiegel dar. Im Spiegel war jedoch nicht ihr Bild zu sehen, sondern ein auf den Hinterbeinen stehender Wolf, der dem Betrachter seine aufgerissene Schnauze entgegenstreckte.
»Siehst du das?« Eifrig tippte Seja auf einen kleinen Krakel in der Ecke des Spiegels. Um ein Haar hätte sie die
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