Wintermord
sondern auch noch völlig irrational handelte und jetzt hier saß: in einer schäbigen Pizzeria in Olofstorp.
Er hatte herausgefunden, dass er hier am besten in sich gehen konnte, oder besser gesagt, dass dies der einzige Ort auf dem Weg von Stenared zu Seja Lundberg war, an dem Kaffee ausgeschenkt wurde.
Nachdem er die morgendliche Teambesprechung unter dem Vorwand einer dringenden Angelegenheit abgesagt hatte, setzte er sich ins Auto mit der vagen Idee, Maria Karlsson einen Besuch abzustatten. Sie und ihr Mann Göran hatten Olof Bart, beziehungsweise Pilgren, als Erste aufgenommen, als er im Alter von sechs Jahren der Fürsorge des Sozialamts überantwortet wurde.
Vier Jahre später starb Göran Karlsson, und Maria stellte sich nicht mehr als Pflegemutter zur Verfügung. Das Einwohnermeldeamt gab immer noch eine Adresse in Öckerö an, aber Tell hatte sie nicht vorher angerufen, um seinen Besuch anzukündigen. In manchen Fällen war es besser, wenn man unangemeldet kam, sodass der Befragte seine Erinnerungen nicht sortieren, sieben und zensieren konnte.
Bevor er beschloss, die mittlerweile recht betagte Maria Karlsson mit einem Besuch zu überraschen, versuchte er, den Marko Jaakonen ausfindig zu machen, mit dem Olofs Mutter eine Beziehung eingegangen war. Wie sich herausstellte, hatte sich Marko Jaakonen sieben Jahre nach Olofs Vermittlung in seine Pflegefamilie im Gefängnis erhängt. Jaakonen war wegen Mordes an einem bekannten Dealer verurteilt worden und konnte mit dieser Schuld nicht weiterleben.
Tell war in einer Sackgasse. Obendrein hatte Ann-Christine Östergren ihn beiseitegenommen und gefragt, warum er eine so gründliche Untersuchung zum Hintergrund des einen Mordopfers anstellte. Er konnte ihr nur antworten, dass er seiner Intuition folge.
Von Thorbjörn Persson, der Kontaktperson des Sozialamts, hatte er erfahren, dass Bart nach seinem Jahr in »Villa Björkudden« nach Olofstorp zurückgekehrt war, um drei Jahre probeweise in einer Einzimmerwohnung in Hjällbo zu leben.
Persson konnte sich noch gut an die Geschichte erinnern. Nachdem Olof in den drei Jahren die Erwartungen erfüllt hatte, wollte man ihm seinen ersten Mietvertrag geben, aber dann teilte er seinem Betreuer mit, er habe sich irgendwo im Hinterland von Olofstorp eine Kate gemietet. Persson bat ihn, diese Entscheidung zu überdenken, denn schon zu dieser Zeit war es schwierig genug, als vorbestrafter und arbeitsloser Jugendlicher einen Mietvertrag zu kriegen.
Doch Bart beharrte auf seinem Entschluss. Obwohl er noch so jung war, wollte er lieber allein im Wald leben als in einer Wohnung. Das beunruhigte Thorbjörn Persson natürlich, und obwohl sein Betreuungsauftrag offiziell beendet war, hielt er noch ein paar Jahre Kontakt mit Olof. Ab und zu rief er an oder sah nach ihm.
Als Tell ihn fragte, wie es Olof Pilgren – so hieß er damals ja noch – als knapp Zwanzigjährigem gefallen hatte, in einer Hütte im Wald zu leben, zuckte Persson mit den Schultern. »Tja, Olof war eben ziemlich eigen. Für ihn war es okay. Mit der Zeit fand er auch ein paar Freunde, ein paar Jungs seines Kalibers, Sven und Magnus. Thomas und Magnus. Oder hieß er Niclas?«
Wie es dann weiterging, wusste er nicht. Nach ein paar Jahren brach Olof ohne besonderen Grund den Kontakt zu ihm ab: Er hatte sich freigeschwommen, und Thorbjörn Persson gönnte ihm die neu gewonnene Freiheit.
Tell trug Karlberg auf, mit Persson eine Fahrt durch die Gegend rund um Olofstorp zu unternehmen, damit der vielleicht die Hütte wiederfand, die Bart als knapp Zwanzigjähriger gemietet hatte.
Irgendetwas sagte ihm, dass die Lösung des Rätsels in Olof Barts Vergangenheit lag. Er vermutete, dass sie hier größere Chancen hatten, auf etwas Brauchbares zu stoßen, als wenn sie den Fall Waltz noch genauer untersuchten. Nicht, dass er den Fotografen vergessen hätte, aber er hatte fast schon die Hoffnung aufgegeben, jemals eine Verbindung zwischen den beiden Mordopfern zu finden.
Er beschloss, doch nicht nach Öckerö zu fahren, und nahm stattdessen die Straße nach Gråbo. Als er die Abfahrt nach Olofstorp sah und den Weg, der nach Stenared führte, bekam er aber doch wieder kalte Füße und fuhr mit 120 Sachen weiter, bis er in Sjövik war.
Eine knappe Stunde blieb er auf einem Rastplatz in Ufernähe im Auto sitzen und starrte auf den Mjörn-See. Irgendwann waren die Scheiben von seinem Atem so beschlagen, dass er den See nicht mehr erkennen konnte.
Langsam und planlos
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