Wintermord
Signatur übersehen, die sich nicht in einer der unteren Ecken befand, sondern mitten in der Zeichnung.
»Ich glaube, das heißt Tinkerbell . Hanna, ich bin ganz sicher, dass das ihr Pseudonym war. Die weiße Lederjacke ... Tinkerbell . Sie hat ihre Bilder immer so signiert, dass man den Namen fast nicht sah.«
Plötzlich meldete sich die Cafébesitzerin hinter dem Tresen in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wenn Sie nichts mehr bestellen, muss ich Sie bitten zu gehen. Sie müssen Ihren Platz für andere Gäste frei machen.«
Seja und Hanna warfen einen Blick auf die Reihe leerer Barhocker, hatten aber keine Lust, sich mit der Frau anzulegen.
»Wir gehen gleich«, versprach Seja und lächelte so freundlich sie konnte. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihr, dass sie tatsächlich mehrere Stunden an der Bar gesessen hatten.
»O Gott, ich wollte doch auch schon seit einer Stunde zu Hause sein, hab ich dem Babysitter versprochen!«
Mit flatternder Jacke rannte Hanna über den Grönsakstorg. Seja blieb noch kurz mit dem schweren Bücherpaket stehen. Allmählich begann es zu dämmern. Sie sollte lieber zum Nils Erikssonsplats gehen, denn die Busse fuhren gegen Abend nur noch selten. Aber irgendwie widerstrebte es ihr, die Suche jetzt abzubrechen, wo sie so nah an der Antwort auf die Fragen war, die ihr in den letzten Tagen durch den Kopf geschwirrt waren.
Jetzt kannte sie also das Pseudonym der weißen Lederjacke, Tinkerbell . Allein dadurch, dass sie ihren Namen ausgesprochen hatte, nahm das Mädchen in ihrer Erinnerung Gestalt an. Ein fein gemeißeltes Gesicht mit einem kleinen Mund, dessen Oberlippe ein bisschen zu dünn für die Unterlippe war. Das zerzauste, in mehreren Farben gefärbte Haar. Die dünnen Beine. Klobige Schuhe.
Bei ihrer letzten Begegnung war sie jedoch wesentlich dezenter aufgetreten und hatte nur einen schwarzen Herrenmantel getragen.
Seja schlenderte zum Kanal hinunter und setzte sich auf den Rand einer nassen Bank. Nur eines der Bücher stammte aus der Zeit nach dem schicksalsschweren Jahr: »Nordbahnhof 1996 – 97« stand auf dem Einband. Trotzdem kam Tinkerbells Name in diesem Buch ständig vor. Die Buchstaben verschwammen, während Seja hin und her blätterte.
Wohin ist sie gegangen? Stimmt es, dass ihr etwas Schreckliches passiert ist – war es eine Vergewaltigung? Viele Jugendliche wollten ihr mit einem Gedicht oder einer Strophe aus einem Songtext huldigen, doch zwischen den Zeilen loderte ebenso viel Angst wie Sensationslust. Und Trauer.
Die meisten schienen zu glauben, dass Tinkerbell sich das Leben genommen hatte, manche meinten, sie sei an einer Überdosis gestorben. Andere drückten sich kryptischer aus und ergingen sich in Andeutungen, dass hinter ihrem Verschwinden ein Verbrechen stecken könnte. Offensichtlich war an dem Abend, als sie verschwand, niemand bei ihr gewesen.
Seja las weiter, und plötzlich fand sie, was sie suchte.
Da war sie, die Liste. Irgendjemand, der offenbar viel auf Ordnung hielt, hatte das Verzeichnis auf die letzte Seite geschrieben. Ihr Herz schlug schneller, als sie fieberhaft die Namen nach einem bekannten Klang durchsuchte. Viele hatten ihren richtigen Namen nicht auf die Linie hinter ihrem Pseudonym geschrieben, vielleicht weil sie ihre Anonymität wahren wollten. Andere hingegen hatten sogar noch Adresse und Telefonnummer dazugeschrieben.
Sie selbst hatte ihre Zeile ausgefüllt: Girl: Seja Lundberg . Deswegen war sie auch so sicher gewesen, dass es diese Liste gab. Mit klopfendem Herzen suchte sie weiter. Da. Da stand es. Tinkerbell: My Granith . Die Adresse in Borås schloss jeden Irrtum aus. Das war sie.
Seja zog ihr Handy aus der Tasche, um Christian Tells Nummer zu wählen. Ihre erfrorenen Finger rutschten auf den Tasten ab und das Telefon fiel zu Boden. Die Unterbrechung gab ihr Zeit zum Nachdenken. Sie lauschte eine Weile dem »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, bevor sie das Handy aufhob und wieder in die Jackentasche schob.
Sie würde noch früh genug mit ihm sprechen, und zwar persönlich. Dann konnte er ihr bei dieser Sache helfen.
46
Normalerweise verwandelte ihn Stress in das reinste Organisationswunder. Da war er wie sein Vater: Er hasste Planlosigkeit.
In seiner Akte stand, dass er bei den ihm übertragenen Fällen eine hohe Aufklärungsquote erzielte. Jetzt aber verstrich die Zeit, und er hatte das Gefühl, sich immer weiter von seinem Ziel zu entfernen. Was dazu geführt hatte, dass er nicht nur spontan,
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