Wintermord
erfüllen und erleichtert auszusehen.
»Sie will gleich nach Hause«, teilte Amina ihm mit. »Nach Hause zu dir, Sebastian. Ich glaube, der Gedanke an dich hat sie kämpfen lassen. Und in der Übergangsphase bin ich ja immer noch da. Du weißt schon, wenn du reden willst.«
Als Solveig nach Hause kam, ließ sie als Erstes das Türschloss austauschen, als wollte sie das Wesen mit dem glasigen Blick und dem zotteligen grauen Haar ausschließen. Beim Friseur ließ sie sich die Haare in einem diskreten Aschblond färben und zu einem Pagenkopf schneiden. Sie trug ein grünes Cordkleid, das er noch nie gesehen hatte, und eine Brille, die ihrem ständigen Blinzeln ein Ende setzte.
»Meine Güte, wie sieht’s denn hier aus!«, rief sie und musterte den sauber aufgeräumten Flur. »Vielen Dank, Sie können jetzt gehen.«
Die leicht verwirrte Amina wurde höflich, aber unerbittlich ins Treppenhaus geschoben und konnte nur noch zusehen, wie ihr die Tür vor der Nase zugemacht wurde.
Sobald die zögernden Schritte auf der Treppe verklungen waren, wischte Solveig sich die Hände ab, als hätte sie sich gerade ein störendes Haar aus dem Auge gezogen. »Puh, Sebastian. Jetzt räum ich aber erst mal auf. Dann gehst du einkaufen, und ich koch uns was zum Abendessen. Und hinterher schauen wir fern.«
»Mama ...«
Doch sie stürzte sich schon mit nervösem Eifer auf die Küche, wo sie sofort zu putzen und zu schrubben begann.
»So, siehst du wohl, jetzt ist Mama wieder zu Hause. Sie ist wie ausgewechselt, sie ist sozusagen über Nacht ein jüngerer, tüchtigerer Mensch geworden.«
Doch sie vermied es weiterhin, ihm in die Augen zu sehen. Sie lachte in sich hinein und übernahm wieder die Kontrolle über ihren Alltag, indem sie den Küchenschrank ausräumte und mit einem feuchten Tuch ihre Abwesenheit aus jedem Winkel wischte. »Es ist nicht deine Schuld, Sebastian. Du kommst jetzt langsam in das Alter, du bist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie alle Männer: Du wirst immer banaler. Bequem. Treulos. Fixiert auf Äußerlichkeiten ... auf dein körperliches Begehren.«
»Mama, das mit My ...«, begann Sebastian, brach aber sofort ab, als sie herumfuhr und ihn mit brennenden Augen anstarrte.
»Kein Wort, Sebastian. Darüber werden wir mit keinem einzigen Wort sprechen.«
Wenige Wochen später zeigten sie das Krankenhaus und die Ärzte für die Fahrlässigkeit an, durch die My ihr Leben verloren hatte.
Dann begann Solveig, mit ihren Erinnerungen aufzuräumen.
45
2007
Vor fünfzehn Jahren war er schon dreißig gewesen und somit uralt. Seja hatte nicht erwartet, dass er jemals Einblick in die geheime Welt der Gästebücher und ihre kodierten Chronisten genommen hatte. Und selbst wenn der Mann vor ihr mal in den Büchern geblättert hätte – er hätte doch nichts anzufangen gewusst mit den Liebesgedichten, den angedeuteten Selbstmorddrohungen und den großspurigen politischen Diskussionen.
Als sie ihr Anliegen vorbrachte, war der Mann ebenso misstrauisch wie verwundert. »Ach, und ich dachte, ihr sucht einen Job!«, rief er und strich sich mit der Hand über sein mit Haarwachs behandeltes Haar. »Wir haben ein Inserat in die Zeitung gesetzt«, erklärte er. »Wir suchen Servicekräfte, wärt ihr nicht interessiert?«
Seja und Hanna schüttelten höflich den Kopf. »Hast du die Bücher denn noch? Oder vielleicht jemand anders, der damals dort gearbeitet hat?«
Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Diese Bücher wurden am laufenden Band vollgeschrieben. Ich glaube, wir haben jede zweite Woche ein neues gekauft. Deswegen versteht ihr sicher, dass wir nicht mehr alle haben, warum auch. Aber ...«
Sein Gesicht leuchtete auf, und er sah Seja an, als hätte sie im Lotto gewonnen. »Ihr habt trotzdem Glück. Ich weiß zufällig, dass Cirka aus sentimentalen Gründen ein paar von den Dingern aufbewahrt hat. Damals gehörte das ja irgendwie dazu.«
Ein paar Sekunden musterte er Seja intensiv: »Ich hab’s doch gleich gewusst. Ich erkenn dich wieder. Wie alt warst du damals?«
»Sechzehn, siebzehn.«
Seja wand sich. Vergeblich durchforstete sie ihre Erinnerungen nach ihren Beiträgen in den Gästebüchern. Doch sie hatte garantiert auch ein Pseudonym gehabt, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass dieser Mann es kannte.
Zu ihrer Erleichterung wandte er sich jetzt an Hanna. »Wie heißt du noch mal? Hanna? Aber nicht Hanna Andersson, oder?«
»Hanna Aronsson.«
»Genau, genau! An dich erinnere ich mich noch
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