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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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wenig mehr verloren.
    Eines Tages würde es unweigerlich geschehen. Die Geruchspartikel eines menschlichen Körpers konnten nicht ewig in einer Decke hängen bleiben, doch wenn es so weit war, würde sie eine andere Beschäftigung finden. Mys Tagebücher, Mys Kinderkleider, die Solveig für eventuelle Enkelkinder aufbewahrt hatte.
    Jetzt stopfte sie ihre eigenen Sachen in die Kommode im Schlafzimmer, um Mys Kleider feierlich in einen begehbaren Kleiderschrank zu hängen, je ein Stück pro Bügel. Sie musste extra mit dem Bus zu IKEA fahren, um noch ein paar Zehnerpacks Kleiderbügel zu kaufen.
    Sich von Dingen zu trennen, war ihr schon immer schwergefallen. Sie hob alles auf, als hätte sie ihr Leben lang gewusst, dass sie sich eines Tages daran festklammern musste, um zu überleben.
    Eine Wand tapezierte sie mit einer dunkelvioletten Tapete und befestigte verschnörkelte goldene Kleiderhaken, an die sie Schals, Hüte, Baskenmützen und andere Accessoires hängte, die My im Laufe der Jahre getragen hatte. Das Arrangement sah aus wie eine Ausstellung, in der jedes Kunstwerk eine Epoche im allzu kurzen Leben ihrer Tochter darstellte.
    Den größten Teil des Tages verbrachte sie in der begehbaren Garderobe, wo es immer noch genug zu tun gab.
    Solange sie an diesen Projekten werkelte, blieb der Tinnitus aus. Aber Solveig wusste, dass sie nach der Fertigstellung der Gedenkstätte nicht mehr umhin konnte, sich in das Feuer zu begeben, das sie jetzt schon verbrannte, sobald sie nur eine Sekunde innehielt und nachdachte.
    Sie hatte noch Alben mit Fotos, die sie sortieren, vergrößern und rahmen lassen musste. Sie hortete kistenweise Schallplatten auf dem Dachboden, die sie hören musste, damit ihr nichts Wichtiges entging. Jede Textzeile konnte die Worte enthalten, die ihre Tochter nie hatte aussprechen können.
    In Mys frühen Teenagerjahren hatte ihr die Musik alles bedeutet. Sie lebte durch Musik, tapezierte ihr Zimmer mit ihren Idolen, kleidete sich wie sie und zitierte sie bei jeder Gelegenheit.
    Solveig verstand nichts von Musik und noch weniger als nichts von der Art Musik, die ihre Tochter gehört hatte. Aber sogar sie begriff, dass die Texte wichtig waren, mindestens genauso wichtig wie die Melodien. My hatte Zeilen daraus mit schwarzem Kajal auf ihren Spiegel geschrieben, hatte mit Stecknadeln Zitate an die Wand geheftet, die sie mit roter Tinte auf Reispapier gepinselt hatte. Sie hatte die Worte zu Kunstwerken erklärt. Damals hatte Solveig sich nie die Mühe gemacht, sie zu lesen – das heißt: Sie hatte es versucht, aber ihr Englisch war eben auch nicht mehr, was es mal war.
    Außerdem war ihr nie klar gewesen, wie wichtig es gewesen wäre, diese Worte zu verstehen – weil sie potenzielle Wege ins Innere ihrer Tochter darstellten, weil sie wie Schlüssel und Geheimcodes waren.
    Hatte Solveig sich vorher nur ein klein wenig geärgert, die größere Wohnung in Rydboholm aufgegeben zu haben, grämte sie sich jetzt fast zu Tode darüber. Dort hatte My ihr Mädchenzimmer bewohnt, dort hatte sie in jedem kleinen Detail gesteckt.
    In der neuen Wohnung war My immer nur vorübergehend gewesen. Hier musste Solveig Dinge erschaffen, die es vorher nicht gegeben hatte. Und in Mys altem Zimmer in Rydboholm wohnten jetzt neue Mieter.
    Irgendwann bekam Solveig von der Volkshochschule Stensjön Mys Habseligkeiten zugeschickt. Als die Holzkiste mit dem Adressaufkleber ankam, war ihr zumute, als würde sie einen Sarg im Empfang nehmen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, My darin zu entdecken.
    Den Plattenspieler stellte sie neben die Schallplattenkisten. Erst als ihr die Arme schmerzten und zitterten, kroch sie ins Bett und begann die Lieder zu hören, die Mys Welt symbolisierten und um jeden Preis verstanden und geschätzt werden mussten.
    Während Solveig mit verbissener Energie an ihrem Gedenkprojekt schuftete, schlich Sebastian misstrauisch um seine Mutter herum. Nur selten sprach er sie direkt an, vielleicht weil er vermutete, dass sie momentan sowieso nur Ohren für die Stimme seiner großen Schwester aus der anderen Welt hatte. Vielleicht aber auch, weil seine Schuld immer noch zwischen ihnen stand. Manchmal setzte er sich in einiger Entfernung hin und sah Solveig zu. Ab und zu durfte er ihr sogar assistieren und ein Regal festhalten, während sie es festschraubte. Oder Kaffee kochen, wenn sie eine Pause brauchte.
    Das Heim der Graniths hatte sich nicht nur äußerlich verändert. Sebastian hatte seine Mutter

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