Wintermord
Stachel in dieses Vertrauen und verursachte Infektionen und Narben, die nie mehr ganz verschwanden.
Als ihm das Ticken der Wanduhr bewusst geworden war, konnte er an nichts anderes mehr denken. Erst wollte er die Jacke ausziehen, damit sie nicht den Eindruck hatte, er sei – in mehr als einer Hinsicht – nur zufällig zu Besuch in ihrem Leben, doch es war ungemütlich frisch im Haus.
Feuer machen, sich eine Tasse Kaffee zu kochen und eine CD einzulegen, um das Ticken der Uhr zu übertönen, hätte so gewirkt, als fühlte er sich hier selbstverständlich zu Hause. Vielleicht wäre sie wütend gewesen, weil er sich solche Rechte herausnahm.
Es kam ihm vor, als wäre schon eine halbe Ewigkeit vergangen, und er hatte keine Ahnung, wann er sich an den Klapptisch gesetzt hatte, um auf den Weg zu starren. Den ganzen Tag hatte er sich in einem Zustand der Verwirrung befunden, in dem jeder Zeitbegriff außer Funktion gesetzt war.
Er ging ins Wohnzimmer. Auf dem Schreibtisch lag in einem aufgeschlagenen Weltatlas ein Foto, das jemand wohl hineingelegt hatte, um es sicher aufzubewahren.
Er starrte auf das Bild, ohne zu verstehen, was er da eigentlich sah. Obwohl das Bild nicht ganz scharf war, konnte es keinen Zweifel am Motiv geben: Lars Waltz, der auf seinem Hof mit zerschossenem Schädel auf dem Kies lag.
Unter dem Bild entdeckte er ein paar hastig hingekritzelte Notizen, die er nicht entziffern konnte, und die Rückseite war mit Bleistift in einer zierlichen, kaum lesbaren Handschrift vollgeschrieben.
Bei näherem Hinsehen glaubte er sagen zu können, dass es Finnisch war.
Ein Geräusch ließ ihn erstarren. Wenn Seja von ihrem Ausritt zurückgekommen war, musste er sich innerhalb von Sekunden zurechtlegen, wie er sie auf dieses Foto ansprach, dass er in Händen hielt. War Seja tiefer in diesen Fall verwickelt?
Er zuckte zusammen, als ein Schatten am Fenster vorbeihuschte. Die Katze. Er entspannte sich wieder. Auf der Steintreppe schepperten die Blechnäpfe.
Erst jetzt fielen ihm wieder die Zweifel ein, die ihn während des Gesprächs mit Seja Lundberg und Åke Melkersson befallen hatten, und es hatte sich tatsächlich herausgestellt, dass sie logen. Damals hatte er sich vorgenommen, die beiden später noch einmal zu verhören, er hatte allerdings seinen Vorsatz nie in die Tat umgesetzt. Und er wusste nur zu gut, warum: Sein schlechtes Gewissen war ihm in die Quere gekommen. Jetzt musste er seinen Fehler büßen, wenn auch ganz anders, als er gedacht hatte.
Tell ging zum Fenster und spähte in den Garten. Die Stalltür war noch immer geschlossen. Er überlegte. Irgendwo im Haus musste es etwas geben, was ihm weitere Erklärungen liefern würde. Und er war entschlossen, es zu finden.
Um nicht von Seja überrascht zu werden, öffnete er das Fenster. So würde er sie hören, wenn sie heimkam.
Er durchsuchte Schnellhefter im Bücherregal und auf dem Schreibtisch und fand mehrere Texte und Artikel. Aber nichts erklärte das Foto vom Tatort. Die Schreibtischschublade war abgeschlossen und er musste eine Weile suchen, bis er den Schlüssel in einem Blumentopf auf dem Fensterbrett fand. In der Schublade lag eine dünne Mappe. In seiner Aufregung musste er die zwei Seiten mehrmals lesen, bevor er begriff, was er in Händen hielt. Es schien sich um ein Exposé für einen größeren Text zu handeln. Obwohl sich die hingeworfenen Sätze eher nach Fragen als nach Antworten anhörten, reichte ihm diese Information.
Sie war irgendwie in diese Geschichte verwickelt.
Ihr Laptop klemmte versteckt zwischen zwei großen Bildbänden auf dem Regal. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis der Computer hochgefahren war, und dann verweigerte er ihm den Zugriff: Er war durch ein Passwort geschützt.
Tell warf einen Blick auf die Uhr und überlegte, wann Lise-Lott Edell wohl ihr Geschäft zusperrte. Wenn er das Gaspedal durchtrat, konnte er es in einer Viertelstunde nach Gråbo schaffen.
47
1997
Nur zweimal am Tag gestattete sie sich, die Plastikabdeckung von Mys Bett anzuheben: einmal vormittags und einmal nachmittags. Täte sie es öfter, würde sich der Geruch ihrer Tochter innerhalb weniger Monate verflüchtigen. Schon jetzt merkte Solveig, dass er dünner wurde, jedes Mal, wenn sie andächtig die abgenutzte Steppdecke mit dem Rosenmuster zurückschlug, die My seit Kindertagen benutzt hatte. Sie schränkte sogar ihren Zigarettenkonsum ein, um ihren Geruchssinn zu bewahren. Sonst wäre es ihr vorgekommen, als hätte sie noch ein
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