Wintermord
Dankbarkeit schnürte Solveig fast die Kehle zu. Dies war sein Geständnis. Ein Schritt auf dem Weg zur Versöhnung.
Barfuß tapste sie über den Flur und machte die Tür zu seinem Zimmer einen Spaltbreit auf.
Eines Nachmittags, als sie gerade letzte Hand an die Gedenkstätte legte, klopfte sie . Solveig, der es schon immer schwergefallen war, zwischen Tagtraum und Wirklichkeit zu unterscheiden, hielt die große Frau mit dem langen schwarzen Mantel für ein Produkt ihrer Phantasie. Sie wollte einfach nicht in das schäbige Treppenhaus passen mit ihrem roten Lippenstiftmund und dem breitkrempigen Hut.
»Im ersten Moment dachte ich, du bist irgendeine Künstlerin.« So drückte sich Solveig später aus. Sie fand die Frau nicht besonders schön, im Gegenteil. Nach ihrem Ideal sollten Frauen anmutig und zart und durchscheinend wie Elfen sein.
Doch an dieser Frau mit den breiten, vollen Lippen und dem energischen Kinn war überhaupt nichts Elfengleiches.
Nachdem sie sich als eine Freundin von My vorgestellt hatte, trat sie so selbstverständlich über die Schwelle, als hätte sie bereits in diesem Moment gewusst, dass sie hier einziehen würde. Als wäre sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass man ihr das verweigern könnte.
Im Flur bemerkte Solveig den Geruch, den diese Frau verströmte, ein schwacher, aber unverkennbarer Duft nach Zimt und Rauch. Als sie ihren Mantel auszog, drang eine süße Wärme aus dem Wollstoff, die in dieser Konzentration fast berauschend wirkte. Sie spürte etwas, was man mit erotischer Anziehung hätte verwechseln können, kam ein wenig ins Schwanken und trat einen Schritt zurück, um sich an der Wand abzustützen.
Die Fremde hielt inne, als wäre ihr die unerwartete Wirkung bewusst geworden, die sie auf Solveig ausübte.
Sie ließ die Arme sinken. »Hab keine Angst«, sagte sie leise. »Ich will nur über My reden. Ich weiß, dass ihr etwas passiert ist, und ich hab das Gefühl, ich gehe kaputt, wenn ich nicht über sie reden kann.«
Solveig ergriff ihre große Hand, wie ein Mensch in Not nach der Hand seines Retters greift, und führte sie wortlos zu ihrer Gedenkstätte. Später war sie der Meinung, der Himmel habe ihr diese Frau geschickt.
48
2007
Wie hatte er seine Mordermittlung mit derartigen Scheuklappen führen können? Wäre er nicht bei einer Zeugin eingedrungen – mit der er außerdem geschlafen und die er hinterher links liegen gelassen hatte, weil er vor ihr genauso viel Angst hatte wie vor seiner Chefin –, dann hätte er das Team immer so weitermachen lassen, ohne zu begreifen, dass sie an der falschen Stelle gruben.
Sein Selbstvertrauen war auf den Nullpunkt gesunken. Nur mit enormer Anstrengung schaffte es Tell zurück ins Präsidium, um die Dinge wiedergutzumachen und zumindest einen Bruchteil der Zeit wieder aufzuholen, die er mit seiner Gedankenlosigkeit vergeudet hatte.
Am Ende des Flurs im Morddezernat stand Karlberg und sprach mit einer Frau. Als Tell näherkam, erkannte er Maria Waltz. Krampfhaft drückte sie sich ihre Handtasche an den Bauch, ein aufsehenerregendes Teil aus rotem Kroko-Imitat.
Ein paar Meter weiter standen zwei schlaksige Wesen, die sich höchst unwohl zu fühlen schienen. Was wollte man auch erwarten? Ihr Vater war gerade ermordet worden, und jetzt hatte man sie zu einer Vernehmung einbestellt. Tell hoffte nur, dass Karlberg geistesgegenwärtig genug gewesen war, den Grund für dieses Gespräch taktvoll zu formulieren.
»Sie haben gerade ihren Vater verloren ...«, hörte man Lars Waltz’ Ex-Frau rufen. Doch sie verstummte, als Tell an ihr vorbeiging und dem älteren Sohn die Hand auf die Schulter legte. Zumindest sah er aus, als wäre er der Ältere. Ansonsten waren sich die Brüder sehr ähnlich und trugen die gleichen beigen Chinohosen und enge karierte Hemden.
Tell stellte sich vor und sprach ihnen sein Beileid aus. Der Ältere strich sich eine Strähne seines Pagenkopfs hinters Ohr und schien verwirrt, dass man ihn wie einen Erwachsenen behandelte.
»Es war ein Fehler, dass ihr heute ins Präsidium bestellt worden seid«, teilte Tell ihnen mit und sprach so laut, dass Maria Waltz ihn auch hören konnte. »Ihr könnt wieder nach Hause fahren.«
Karlberg sah ihn verblüfft an, doch Tell ließ ihn stehen und ging ohne jede Erklärung weiter in sein Büro. In seinem Rücken hörte er seinen Kollegen ein paar lahme Sätzchen vorbringen, dass sich die Polizei melden würde, sobald sie mehr wüssten oder wenn sie doch noch
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