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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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auch noch nie so voller Energie erlebt: In all den Jahren zuvor war die Müdigkeit ihr Markenzeichen gewesen.
    Oft war er selbst schon ganz müde, sobald er nur durch die Wohnungstür trat. My und er hatten einmal darüber gesprochen, wie dieses Zuhause ihnen die Kraft raubte. Manches Mal hätte er seiner Mutter diese Worte am liebsten ins Gesicht geschleudert, mitten in ihr aufgedunsenes Gesicht mit den gereizten Augen und den hektisch geröteten Wangen.
    My hat dich gehasst. Kapier es endlich. Sie hat dich gehasst. Du erinnerst dich nur an Sachen, die nie gewesen sind. Du erinnerst dich, wie sie dich geliebt hat. Dass ihr so ein gutes Verhältnis hattet. Du glaubst, dass ihr gleich wart, Mama, aber ihr wart alles andere als gleich. My war stark und echt. Du bist bloß Scheiße, Mama. Du bist Scheiße, und jeder weiß es.
    Selbstverständlich sprach er es nie aus.
    Eines Morgens erwachte sie wie üblich mit einem Schrei, der ihr in der Kehle steckengeblieben war. Durch die Tabletten war ihr traumloser Schlaf so tief, dass sie auf ihrem Arm gelegen hatte, bis er völlig taub war. Totes Fleisch , dachte sie, als sie mit der gefühllosen Hand gegen die Kommode stieß.
    Sobald sie sich im Bett aufgesetzt hatte, stieg der Schrei weiter nach oben, um dort ihre Entscheidung abzuwarten: Würde sie ihn durch den Mund herauslassen oder wie den Ruf eines gequälten Tieres im Gehörgang stecken lassen?
    Gegen Tinnitus kann man nichts machen, verkündete der Arzt, und verschrieb ihr Beruhigungsmittel, um die Geräusche zu dämpfen.
    Ihr Atem kam stoßweise, sie schnappte nach Luft und musste sich selbst Befehle erteilen. Steh auf, Solveig. Mach die Tür auf. Geh über den Flur. Mach die Garderobentür ein Stück auf. Mach das Licht an, Solveig.
    Wenn sie ihr Gedenkwerk betrachtete, spürte sie, wie sich die Ruhe in ihrem Körper ausbreitete. Solveig vergrub ihre Nase in Mys weißer Lederjacke. An manchen Stellen war das Futter gerissen und ausgefranst, und sie beschloss, es zu flicken. Mit langsamen Bewegungen nahm sie den Bügel von der Kleiderstange und drückte sich die Jacke an die Brust. Jetzt ging ihr Atem vollkommen ruhig, denn sie hatte ihre Aufgabe für den heutigen Tag gefunden.
    Als sie die Tür gerade wieder schließen wollte, sah sie es. Sie schob die Kleider beiseite und legte frei, was sich dahinter verbarg.
    Die Rückwand war von oben bis unten mit Bildern bedeckt. Diese Collage hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen.
    Solveig strich mit der Hand über die raue Oberfläche. Sie wusste genau, wie alt dieses Kunstwerk war: Im Alter von elf Jahren fand My einen Sack voll Zeitschriften bei den Mülltonnen. Nicht die, die Solveig manchmal las, sondern feine Frauenzeitschriften mit Namen wie »Elle« oder »Vogue«, mit Modereportagen aus Paris und Interviews mit Schauspielern, Künstlern und Designern.
    Wochenlang saß My vor den Zeitschriften und blätterte sie durch, als enthielten sie einen Code, der ihr von Nutzen sein könnte, wenn sie irgendwann mal erwachsen wäre. Schließlich suchte sie sich ein paar Bilder aus, die sie bearbeitete: schwarz gekleidete dünne Frauen mit dunklen Augen, die sich an dicke Bäume lehnten. Parfumwerbung mit nackten Körpern in künstlerischen Posen. Schwarze Männer mit nacktem Oberkörper und strahlend weißen Zähnen. Männer in Frauenkleidern. Frauen im Anzug.
    Nach monatelangem Schnippeln und Kleben befand My die Collage für fertig: eine Explosion aus Gesichtern, Körpern und Farben. Sie hatte mit Wachsmalkreide direkt auf die Bilder gemalt und sie nach eigenem Gutdünken verändert. Sie klebte mehrere Bilder mit dicken Schichten Tapetenkleister übereinander und riss Streifen aus den Gesichtern und Körpern heraus, bevor der Kleber getrocknet war. Auf diese Art wurden kleine Teile der darunterliegenden Bilder freigelegt. Ein Paar Augen mit durchdringendem Blick. Eine Brust. Ein Fuß im Sand. Eine Schlange.
    Damals gefiel es Solveig gar nicht, dass My die Collage in ihrem Zimmer aufhängte. Sie mochte die vielen Augenpaare nicht, die sie anzustarren schienen, außerdem fand sie so viel nackte Haut ein bisschen heftig für ein elfjähriges Mädchen.
    »Was ist denn los mit dir?«, hatte sie zu My gesagt. »Du wirst noch früh genug unglücklich werden dadurch.«
    Sebastian musste die Collage in der Nacht aufgehängt haben, und nicht nur das: Er musste sie all die Jahre heimlich aufgehoben haben. Jetzt wollte er mit seinem Schatz zu ihrer Gedenkstätte beitragen. Die

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