Wintermord
Veranstalter aufgeführt waren, gebeten, sich mit den Ermittlern in Verbindung zu setzen. Seja hatte sich nie gemeldet.
Warum?, wollte Tell fragen, doch sie kam ihm zuvor. Aus demselben Grund, aus dem sie Tell nicht früher hatte erzählen können, was sie in jener Nacht gehört und gesehen hatte: Sie war sich einfach nicht ganz sicher. Solange man sie nicht packte und zu einer Antwort zwang, musste sie kein endgültiges Urteil über ihre eigene Glaubwürdigkeit fällen oder sich rechtfertigen, warum sie nichts unternommen hatte.
Bevor sie sich’s versah, war das Ganze auch schon wieder vorbei. Die Ermittlungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt, und das Leben ging weiter seinen gewohnten Gang.
»Ich hab gesehen, wie er sie angesehen hat, mit einer Mischung aus Wut und Lust. Ich hab gesehen, dass er sie gehen sah. Und dann hab ich gesehen, dass er und seine Kumpels direkt nach ihr gefahren sind. Aus irgendeinem Grund ist mir das aufgefallen. Dass sie alleine ging, dass es stockfinster war und dass diese drei finsteren Typen gleich nach ihr fuhren. Ich blieb noch eine ganze Weile allein draußen stehen, weil ich es einfach nicht fertigbrachte, wieder reinzugehen.«
Die Tränen liefen ihr über die Wange. »Ich weiß, wie lächerlich das klingt, aber ich spürte das Böse in der Luft, Christian. Ich ahnte etwas, aber ich wusste nicht, was es war oder was ich tun sollte, um es zu verhindern. Also blieb ich einfach da stehen, und in der Zeit verließ niemand den Club, niemand außer diesen dreien. In dieser Zeit hätte sie es bis zur Landstraße schaffen müssen. Verstehst du, was ich meine?«
Er nickte. Er verstand durchaus. »Was auch immer in dieser Nacht passiert ist, du hättest es nicht verhindern können«, beteuerte er sanft.
»Auch wenn du jetzt glaubst, damals etwas geahnt zu haben, musst du einsehen, dass es ein nachträgliches Konstrukt ist. Woher hättest du es denn wissen sollen? Und selbst wenn – was hättest du unternehmen können? Du trägst überhaupt keine Schuld, alle Schuld liegt bei diesen drei Männern. Es waren doch drei?«
Während er beschwichtigend auf sie einredete, versuchte er fieberhaft, die beiden Geschichten miteinander zu verknüpfen. Obwohl er die Antwort bereits ahnte, musste er die Fragen stellen. Kannte sie diese drei Männer? Wie sahen sie aus? Wie alt hätte sie sie geschätzt? Woran konnte sie sich noch erinnern?
»Ich erinnere mich an alles, bis ins letzte Detail. Einer von ihnen war wütend, weil er nach Hause fahren wollte, und er nervte die anderen beiden ständig, dass sie endlich kommen sollten.«
Als sie ihm schließlich anvertraute, was für Gedanken sie in den letzten Tagen gequält hatten, ließ sie die Hände mit nach oben gewandten Handflächen auf den Schoß sinken. Ein Bild der Resignation. »Kurz bevor sie dann wirklich losfuhren, hat der wütende Typ einen von den anderen mit Vor- und Nachnamen angeredet. Er nannte ihn Thomas Edell. ›Thomas Edell, kommst du jetzt endlich, verdammt noch mal?‹–, und das müssen auch ein paar andere Gäste gehört haben. Aber soweit ich weiß, hat es niemand der Polizei gegenüber erwähnt. Vorher hat er ihn anders angesprochen ... ›Fuchs‹ ... oder ›Wolf‹ oder so. Ich weiß auch nicht, warum ich mir das gemerkt hab. Zu guter Letzt haben sein Freund und er Edell irgendwie ins Auto bugsiert.«
Erst als Tell plötzlich dringend Atem schöpfen musste, merkte er, dass er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. »Seja, würdest du diesen Freund wiedererkennen, wenn du ihn heute sehen würdest?«
Sie schien einen Moment zu überlegen, dann sagte sie: »Ich glaube schon. Ich meine, das Ganze ist ziemlich lange her, aber ich hab ja auch gleich erkannt, dass da nicht Thomas Edell auf dem Hof lag, obwohl so viel Blut und ... Ich glaube nicht, dass ich mich da irren könnte. Auch wenn es mir nicht bewusst war, hatte ich sein Gesicht über zehn Jahre ganz deutlich im Gedächtnis bewahrt.«
49
Der Teilnehmer war vorübergehend nicht erreichbar. Vor fast anderthalb Jahren hatte er ihnen seine Telefonnummer auf die Rückseite eines Fotos geschrieben, das die beiden Kinder dieser Frau zeigte. Dagny bestand darauf, das Bild aufs Klavier zu stellen. Als wären es wirklich Svens Kinder, Enkel, mit denen sie angeben könnte.
Er übertrug die Nummer in sein schwarzes Adressbuch, das jetzt vor ihm auf dem Telefontischchen lag. Der einzige Anschluss des Hauses befand sich im Flur, genau in der Mitte des Erdgeschosses.
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