Wintermord
Also musste er warten, bis Dagny ihren Mittagsschlaf hielt oder abends ins Bett ging, bevor er die Nummer wählen konnte. Jedes Mal teilte ihm die unpersönliche Frauenstimme mit, dass sein Sohn vorübergehend nicht zu erreichen sei.
Allerdings hielt er es nicht für unmöglich, dass sein Sohn ihm eine falsche Nummer gegeben hatte, um nicht zwischen Pest und Cholera wählen zu müssen – entweder er ließ sich von seinen Eltern mit Anrufen überfallen, oder er hätte sich weigern müssen, ihnen seine Nummer zu geben.
Im Gegensatz zu seiner Frau war Bertil Molin ein Realist. Er würde sich nie zum Narren machen, indem er sich einredete, ein gutes Verhältnis zu seinem Sohn zu haben. Anders Dagny, sie klammerte sich verzweifelt an Halbwahrheiten, um sich nicht wie eine Versagerin fühlen zu müssen.
Bertil Molin sah eine gewisse Stärke darin, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Auf diese Art kam man dem Kummer zuvor, der einen sonst in den unpassendsten Momenten wie eine Welle überspülte.
Dagny hingegen machte ein Mordsaufhebens um ihren Sohn. Sowie jemand das Haus betrat, prahlte sie mit dieser Chinesin oder Thailänderin oder was auch immer.
Bei dem Gedanken schnaubte er verächtlich. Von der Frau, die ihr Sohn vor fünf Jahren geheiratet hatte, kannten sie ja nicht mal den Namen. Vielleicht hatte Sven ihn bei einem seiner seltenen Anrufe mal erwähnt. Vielleicht auch nicht. Wenn es um seinen Sohn ging, war Bertil Molin sehr wohl bewusst, dass das Gefühl der Enttäuschung auf Gegenseitigkeit beruhte.
Er wusste allerdings, dass sein Sohn mit einem schmuddeligen Foto im Gepäck in ein Entwicklungsland gefahren war, um sich eine Frau zu kaufen. Dort waren die Leute so arm, dass man für Geld alles haben konnte. Mehr brauchte er über diese Frau nicht zu wissen. Sie hatte Sven nichts zu bieten, außer einem Mangel an Stolz, der ihr sicher von Nutzen war, als sie sich mit ihren zwei unehelichen Kindern über den halben Erdball verfrachten ließ, um sich in der kleinen Gemeinde Mölnebo, wo Sven wohnte, versorgen und anglotzen zu lassen. Und obendrein sein Ansehen zu ruinieren.
Der Teilnehmer war immer noch nicht zu erreichen. Vorsichtig legte er den Hörer auf, um Dagny nicht zu wecken. Es bestand allerdings keine große Gefahr – sie hatte das Gesicht zur Sofalehne gedreht, und die schweren Atemzüge waren bereits in Schnarchen übergegangen. Er würde es in einer Viertelstunde noch mal probieren. Mehr konnte er nicht tun, redete er sich ein.
Doch in seinem Innersten ahnte er, wenn er Sven nicht bald erreichte, würde er es eines Tages bitter bereuen, nicht mehr unternommen zu haben, sich nicht über seine Herzbeschwerden und das Flimmern vor den Augen hinweggesetzt und hinters Lenkrad geklemmt zu haben, um nach Mölnebo zu fahren und mit seinem Sohn zu reden. Ihm von der Zeitungsmeldung und dem Wirbel auf dem Nachbarhof zu erzählen. Ihn zu warnen.
Er schlich ans Fenster und linste durch die Spitzengardine. Über das Dach des alten Renault und quer über den Acker zu Edells. Im ersten Stock brannte Licht. Lise-Lott war nach Hause gekommen.
50
1999
Später konnten sie nur noch schwer nachvollziehen, wie es eigentlich passiert war. Wenn man Solveig gefragt hätte, ein halbes Jahr, nachdem Sebastian aufs Sofa und Caroline in sein Zimmer gezogen war, hätte sie nur eine vage Antwort geben können. Caroline stand eines Tages einfach vor der Tür, und dann war sie eben geblieben.
Dass sie wirklich blieb, kam Solveig vor wie ein Segen. Caroline verschaffte ihr und Sebastian einen Aufschub, sodass sie nicht darüber nachdenken mussten, wie sich ihr Verhältnis im Schatten dieses Verbrechens gestalten sollte.
Später begriff sie, dass Caroline mit ihrem Erscheinen Mys Leben vor dem Vergessenwerden gerettet hatte. Mehr als alles andere fürchtete Solveig nämlich, sich des Vergessens schuldig zu machen.
Caroline hatte My auch auf die einzige Art geliebt, die sie verdiente: rein, nobel und über jeden Tadel erhaben – nach dem Tod ihrer Tochter war Solveig überzeugt, sie ebenso geliebt zu haben. Das gab ihr das Gefühl, ein edler Mensch zu sein.
Auch den Ekel über die sexuelle Beziehung, die Caroline wohl zu ihrer Tochter gehabt hatte, überwand sie. Im Laufe der Jahre hatte sie eine wahre Meisterschaft darin erlangt, unangenehme Wahrheiten zu leugnen. Caroline hatte eine gewisse Härte an sich, und in ihrem Blick ahnte Solveig eine konzentrierte Wut. Die Spitze eines Eisbergs. Sie hätte sich nie gegen sie
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