Wintermord
Lars Waltz’ weggepustetem Schädel, der finnische Text und irgendein Dokument in ihrer Schublade, in dem der Name Thomas Edell vorkam.
Er konnte durchaus verstehen, dass sie gekränkt war. Aber kaum hatte er sich eingestanden, dass er ihre Aufregung berechtigt fand, ging ihm auf, dass sie ihn damit von seinem eigentlichen Anliegen abgelenkt hatte.
Er war hinters Licht geführt worden. Und obwohl er wütend war, zwang er sich zur Ruhe, denn mit diesem vorwurfsvollen Ton würde er sie nie zum Reden bringen.
»Kannst du Finnisch?«, war die einzige Frage, die ihm einfallen wollte.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, als traute sie ihren Ohren nicht.
»Ja oder nein?«
»Ja«, antwortete sie lauter als nötig. »Meine Mutter ist in Finnland geboren.«
Sie weigerte sich, ihn anzusehen. Auf einmal tat sie ihm wieder leid. Er verfluchte sich für die Genugtuung, die er empfunden hatte, als er ihren Widerstand zusammenbrechen sah. Als wäre sie nicht die Frau, in deren Nacken er noch vor ein paar Tagen sein Gesicht vergraben hatte, während er sich sagte: This is it .
»Wolltest du damit verhindern, dass es jemand lesen kann?« Sein Ton war jetzt schon sanfter, und sie zuckte unmerklich mit den Achseln.
»Als ich klein war, hab ich immer auf Finnisch geschrieben, wenn ich nicht wollte, dass die anderen Kinder es verstehen.« Sie sprach leise, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden. »Es war sozusagen meine Geheimsprache.«
Er bekämpfte den Drang, seine Hand auf ihre zu legen. »Wolltest du es mir noch erzählen?«, fragte er schließlich.
Ihre Verletzlichkeit wich plötzlich wieder der vorherigen Gereiztheit. Sie hob ratlos die Arme. »Ich weiß ja nicht mal, ob es da überhaupt was zu erzählen gibt, Christian. Mir ist immer noch nicht klar, ob das, was ich weiß, etwas mit deinen Ermittlungen zu tun hat, verdammt noch mal, schließlich lag ja nicht Thomas Edell tot auf dem Hof! Das ist auch der Grund, warum ich dir nichts gesagt habe. Woher soll ich wissen, was von den Erinnerungen an eine schlimme Phase meines Lebens wahr ist – du kennst das doch selbst, oder nicht? Das Gedächtnis ist ein Sieb – man entscheidet selbst, woran man sich erinnern will.«
Schließlich atmete sie aus und erzählte von den Bildern, die aus der Vergangenheit auf sie einstürmten.
In der folgenden Stunde wurde es dunkel im Zimmer, aber sie machten sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Als sie zu erzählen begann, lauschte er mit angehaltenem Atem, als ob die geringste Bewegung den Lauf der Erzählung und ihr empfindliches Vertrauen stören könnte. Immer wieder wich sie vom Thema ab, während ihm konkrete Fragen auf der Zunge brannten: Warum besitzt du mehrere vergrößerte Fotos von einem Mordopfer? Und wie hängt das mit der Tatsache zusammen, dass du als Erste am Tatort warst und außerdem eine Liebesbeziehung mit dem Kommissar hast, der die Ermittlungen leitet? Doch er verfügte über genug Einfühlungsvermögen, um zu wissen, dass sie sich nur wieder in sich zurückziehen würde, wenn er jetzt zu viel Druck auf sie ausübte.
Allmählich zeichnete sich ein Bild vor ihm ab: Zwei junge Frauen, die jeweils vor einem Scheideweg standen. Die eine war Seja, die andere eine flüchtige Bekannte. Seja erzählte von einer klirrend kalten Dezembernacht im Heim eines Biker-Clubs, fern von jeder Zivilisation. Gegen Mitternacht hatte sie die andere getroffen, sie hatten sogar kurz überlegt, ob sie einander auf dem Heimweg Gesellschaft leisten sollten, aber dann beschloss Seja, noch zu bleiben. Dabei hatte sie jedoch Übles geahnt – zumindest in ihrer Erinnerung.
Später kursierten in ihrem Bekanntenkreis Gerüchte, dass man in den Wäldern in der Nähe des Clubs eine tote Frau gefunden habe. Es stand auch in den Zeitungen. Man vermutete ein Verbrechen, fand aber niemals einen Täter. Manche behaupteten, die Frau sei vergewaltigt worden, andere sagten, sie sei einfach betrunken gewesen und in den Wald gerannt, wo sie sich bei einem Sturz den Kopf an einem Stein aufschlug. Keiner von Sejas Freunden wusste Genaueres.
»Ich tat so, als würde mich das Ganze kaum berühren. Zu dem Typ, der es mir auf einer Party erzählte, hab ich gesagt, ich hätte die Frau nicht gekannt, die da draußen im Wald gestorben war, das weiß ich noch. Außerdem stimmte es ja auch. Ich redete mir ein, dass es nichts mit mir zu tun hatte.«
Die Polizei hatte mehrere Besucher des Clubs vernommen und alle, die nicht auf den Listen der
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