Wintermord
auflehnen können. Vorerst half Caroline ihr beim Überleben, indem sie ihre Trauer filterte. Sie sprach über My und hörte Solveig zu, wenn diese über My sprach.
Caroline hatte all die Eigenheiten bemerkt, von denen Solveig bis dahin geglaubt hatte, sie seien dem Auge einer Mutter vorbehalten: Mys Art, sich die Fingerspitzen auf die Lippen zu legen, wenn sie lachte. Wie sie den Kopf zur Seite neigte, wenn sie nervös wurde. Und dass sie jede Menge dämliche Redensarten auf Lager hatte, die überhaupt nicht zu ihr passten, und wie sie immer ein wenig verlegen wirkte, wenn ihr mal wieder eine herausgerutscht war.
My war der Dreh- und Angelpunkt in ihrer Beziehung und die Gedenkstätte das Zentrum für alle Blicke in die Vergangenheit und in die Zukunft. Irgendwann hatten die Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte nichts mehr von Solveig hören wollen und sagten: Inzwischen sind fast drei Jahre vergangen. Jetzt musst du versuchen, weiterzugehen, deine Tochter zu begraben und nach vorn zu schauen . Zu diesem Zeitpunkt war Carolines und ihre gemeinsame Grundlage schon stabil genug, um sie zu tragen.
Sie zogen sich aus der Welt zurück und nährten eine immer stärkere Überzeugung, was die Umstände von Mys Tod anging. Nachdem Solveig anfangs die Schuld auf Sebastians Schultern geladen hatte, keimte irgendwann die Erkenntnis, dass ihrer Tochter etwas Schreckliches zugestoßen war und dass sie in ihrem letzten Moment im Leben nichts als Grauen empfunden hatte. Wie viel Verantwortung Sebastian auch dafür trug, dass sie ihrem Mörder allein begegnet war, er hatte ihr nicht den spitzen Stein an den Kopf geschlagen. Jemand anders hatte es getan, und dieser Jemand hatte seine Strafe noch nicht bekommen.
»Ich werde rausfinden, wer es war«, versprach Caroline, während sie Solveigs Kopf hielt. »Verlass dich auf mich. Aber Sebastian muss mir dabei helfen.«
»Sebastian?« Solveig war erstaunt.
Doch sie hätte sich zu allem bereit erklärt. Ein schwacher elektrischer Strom floss aus Carolines Händen, und in ihren dunklen Augen hatte sie My entdeckt. My bewegte sich in Carolines Augen.
»Ich brauche seine Ortskenntnis.«
In derselben Nacht, in der Caroline die Erlaubnis erhalten hatte, nachzuforschen, was in jener Dezembernacht eigentlich passiert war, fanden sie Sebastian mit aufgeschnittenen Pulsadern auf dem Badezimmerboden.
Er war kaum ansprechbar, und obwohl sich wenige Stunden später im Krankenhaus von Borås herausstellte, dass die Wunden nicht besonders tief waren, entschied man, ihn für ein paar Tage zur Beobachtung dazubehalten.
Offensichtlich war nach einem Selbstmordversuch ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter obligatorisch.
»Sebastian? Deine Freundin ist hier.«
Die Krankenschwester, die den Kopf ins Zimmer streckte, zwinkerte gekünstelt, während ein neckisches Lächeln ihre Lippen umspielte.
»Meine Freundin?«, wiederholte Sebastian zweifelnd. Seine Stimme wollte ihm immer noch nicht gehorchen.
»Ja! Sie ist ...« Das betont vergnügte Mädchen suchte nach dem richtigen Wort. »Respekt einflößend«, fiel ihr schließlich ein.
Da dämmerte Sebastian, dass Caroline draußen auf grünes Licht wartete, zu ihm in die geschlossene Abteilung gelassen zu werden. Der Gedanke versetzte ihm einen Stich. Er wusste rein gar nichts über sie. Wenn es um sie selbst ging, machte sie höchstens mal kurze, oft widersprüchliche Bemerkungen. Auf diese Art blieb sie geschichtslos und konturlos. Wenn er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, war das Bild diffus, wie eine Person aus einem Traum, der sich beim Aufwachen verflüchtigt. In solchen Momenten bezweifelte er, dass sie existierte. Vielleicht war sie ja nur ein Produkt von Solveigs und seiner Phantasie?
In einem Film mit Bruce Willis wurde es immer kühl, sobald ein Gespenst die Szene betrat. Ebenso konnte Sebastian Carolines Gegenwart wie einen kalten Luftzug im Nacken spüren, bevor er sie sah. Er versuchte sich einzureden, dass es lächerlich war, vermied es aber trotzdem, allein mit ihr zu sein.
Außerdem veränderte sie ständig ihr Aussehen. Das Verwirrendste an Caroline war ihre Fähigkeit, sich zu häuten und eine völlig neue Gestalt anzunehmen. Vom einen Tag auf den anderen traf er plötzlich eine andere Person in der Küche, die sogar Stimmlage, Dialekt und Gesichtszüge gewechselt hatte. Sie konnte zärtlich sein wie die Mutter, die Solveig ihm nie gewesen war. Sie konnte hellblond und bucklig sein, ängstlich und voller
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