Wintermord
Geräusch glaubte er, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Mit der Dunkelheit war seine Panik weiter gestiegen und wollte auch jetzt mit der Morgendämmerung nicht weichen. Ohne sein Gewehr auch nur eine Sekunde aus der Hand zu legen, kroch er auf allen vieren durch die Hütte, damit ihn niemand durchs Fenster sehen konnte. Da er nicht einmal wagte, für seine Notdurft den Wald aufzusuchen, benutzte er einen Eimer. Die Lebensmittel, die er bei seinem Aufbruch noch eilig eingepackt hatte, waren bald aufgezehrt.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis er wahnsinnig wurde. Wenn er nicht vorher an Hunger starb.
Da sein Handy keine Zeitanzeige hatte, verlor er schnell jedes Zeitgefühl. In regelmäßigen Abständen erschien die Nummer seiner Eltern lautlos auf dem Display, im Wechsel mit einer anonymen Nummer, hinter der er die Polizei vermutete. Sie hatten ihm bereits eine Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen, in der sie ihn baten, sofort die nächste Polizeiwache aufzusuchen. Er hatte keine Ahnung, ob es schon Tage oder erst Stunden her war. Jedenfalls traute er der Polizei nicht, und dass sie ihn vor einem durchgeknallten Irren schützen konnten, traute er ihnen schon gar nicht zu.
Es war von Anfang an undenkbar gewesen, sich zu stellen. Erst überlegte er fieberhaft, ob seine Beteiligung als Totschlag gelten würde, als Beihilfe zu einem Vergewaltigungsversuch oder als Behinderung der polizeilichen Ermittlungen. Wäre der Vorfall nach zwölf Jahren nicht sowieso verjährt?
Später war das bestimmende Gefühl Angst, eine primitive Urangst. Er hätte zu gern die Polizei in seiner Jagdhütte gehabt, als er zitternd und in kaltem Schweiß gebadet in seinem Schlafsack lag und jeden Moment damit rechnete, dass der wahnsinnige Rächer die Tür eintrat, um ihn zu töten. Als er gerade zu seinem Handy griff, um den Polizeinotruf zu wählen, bevor der Akku ganz leer war, kam eine SMS:
Die Polizeibehörde von Göteborg hat mehrfach versucht, Sie wegen einer akuten Bedrohung zu erreichen. Wir teilen Ihnen mit, dass diese Bedrohung nicht mehr besteht, da der Täter gefasst wurde. Sie werden aufgefordert, sich unter der Nummer 031-739 29 50 mit Kommissar Christian Tell in Verbindung zu setzen.
Er musste den Text mehrmals lesen, bis er begriff, was dort stand.
Molins Herz schlug noch immer bis zum Hals, als er geduckt durch den Wald zu der Stelle rannte, an der er das Auto seines Nachbarn versteckt hatte. Nachdem er auf den Sitz gehechtet war, verriegelte er alle Türen und fuhr mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über den kurvenreichen Kiesweg davon. Nur weg hier. Weg von dem schlimmsten Tag seines Lebens, weg von der Angst und den fieberhaften Wachträumen, in denen eine namenlose Silhouette über ihm aufragte und den Arm hob. Sowie er wieder zu Hause war, würde er die Polizei anrufen, und dann würde ihm ein Stein vom Herzen fallen.
Er schrie auf, als ein Schatten vors Auto lief. Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er direkt in ein verschrecktes Augenpaar. Dann prallte das Auto gegen das Hinterteil des Rehs. Im Rückspiegel sah er, wie es auf der Straße zusammensackte und reglos liegen blieb.
Als er schon glaubte, es sei verendet, kämpfte es sich doch noch einmal auf die Beine und schleppte sich mit langgezogenen Klagelauten in den Wald.
Vor Sven Molins Augen begann es zu flimmern, und er musste an der beleuchteten Kreuzung mit den Briefkästen stehen bleiben. Eigentlich war er ja fast schon zu Hause.
... Wir teilen Ihnen mit, dass diese Bedrohung nicht mehr besteht, da der Täter gefasst wurde. Die Gefahr war überstanden. Er atmete so ruhig er konnte.
Die gespenstischen Schreie des Rehs schienen näher zu kommen. Erneut warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie sich schräg hinterm Auto die Zweige einer Fichte bewegten.
Einen Augenblick zögerte er noch, dann griff er zu seinem Gewehr. Die Schreie des verletzten Tieres waren unerträglich. Ein einziger Schuss würde genügen.
Im rötlichen Schein seiner Rücklichter folgte er dem Geräusch. Er musste nicht weit gehen, da stolperte er fast über das gequälte Tier. Ein Schuss hallte durch den Wald, gefolgt von barmherziger Stille. Dann eilte er zum Auto zurück. Er hatte die Fahrertür offen gelassen und war nur noch ein paar Meter entfernt, als er hinter sich eine Bewegung wahrnahm.
Eine Sekunde später spürte er den Stich zwischen den Schulterblättern. Erst wunderte er sich und verrenkte sich die Arme in dem instinktiven Versuch,
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