Wintermord
standen sie im Stau. Tell musste immer langsamer fahren und schließlich ganz stehen bleiben. Er fluchte. Wie der Verkehrsfunk mitteilte, war ein Lkw umgekippt und blockierte die gesamte Fahrbahn, die Räumungsarbeiten waren aber schon in vollem Gange.
Nach einer dreiviertelstündigen Wartezeit, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, konnten sie endlich die Abfahrt nach Kinna nehmen, um von dort aus über die kleineren Landstraßen nach Borås zu gelangen.
Eine ganze Weile später als geplant erreichten sie die angegebene Adresse, ein zentral gelegenes, aber ziemlich tristes Mietshaus.
An der Tür stand »S. Granith«. Obwohl niemand öffnete, blieben sie hartnäckig stehen, denn aus der Wohnung drangen kratzende Geräusche. Schließlich hämmerte Bärneflod gegen die Tür, drückte die Klappe des Briefschlitzes nach innen und erblickte ein Paar bestrumpfte Füße.
»Würden Sie so freundlich sein, die Polizei hereinzulassen?«, wandte er sich in gebieterischem Ton an die Füße. Zögerlich wurde der Schlüssel im Schloss gedreht, und eine zerzauste Frau erschien in der Türöffnung. »Worum geht’s?«, erkundigte sie sich betont mürrisch, um ihre Angst zu verbergen.
Tell zeigte seine Dienstmarke, und als sie nicht reagierte, trat er einfach in die Wohnung. Bärneflod tat es ihm nach, und die Frau wich mit großen Augen zurück.
Tell sagte sich zwar, dass der Sohn dieser Frau gerade wegen Mordes verhaftet worden war, aber nicht einmal das weckte in ihm Verständnis für ihr Aussehen. Das ungewaschene graue Haar hing ihr in verfilzten Zotteln in den Nacken, und ihr Gesicht schien im Laufe der Jahre durch Zorn, Demütigungen und Ekel entstellt worden zu sein. Krampfhaft zerrte sie an ihrem viel zu kurzen Pullover. Die Strumpfhose schlotterte ihr um die mageren Beine, und über dem Bund blitzte ein Streifen bleicher runzliger Haut hervor.
»Entschuldigen Sie, dass wir so spät noch stören. Dürfen wir reinkommen?«, fragte Tell.
»Das tun Sie doch sowieso«, giftete sie, führte sie aber in ein zugestelltes Wohnzimmer mit einer geschmacklosen Mischung aus Möbeln und Stilen. Tell zählte allein vier Tische in verschiedenen Größen. Die Polizisten suchten sich einen aus und nahmen jeweils auf einem Zweisitzer Platz. Solveig Granith blieb demonstrativ stehen, um zu bedeuten, dass sie die beiden nicht allzu lange in ihrer Wohnung haben wollte. Als Tell und Karlberg sich weigerten, den Wink zu verstehen, setzte sie sich auf einen Sessel am Fenster.
»Sie sind die Mutter von Sebastian Granith?«, begann Bärneflod.
Die Frau nickte mürrisch.
»Wie Ihnen mitgeteilt wurde, sitzt ihr Sohn in Untersuchungshaft und hat gestern Nacht zwei Morde gestanden, an Lars Waltz und Olof Bart.«
Ohne eine Miene zu verziehen, wandte Solveig Granith das Gesicht zum Fenster.
Bärneflod und Tell tauschten einen Blick. Diese Dame war offensichtlich keine leichte Nuss.
Tell beschloss, zum Frontalangriff überzugehen. »Wenn wir das richtig verstanden haben, wohnt Ihr erwachsener Sohn noch bei Ihnen. Daher möchten wir Sie fragen, wo er sich am neunzehnten Dezember abends und am achtundzwanzigsten Dezember am frühen Morgen befand.«
Er schrieb die beiden Daten auf eine leere Seite seines Notizblocks und reichte Solveig den Zettel. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt, bevor sie wieder zum Fenster hinausstarrte.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit mit dem Nachdenken.«
Durch einen Spalt zwischen den schmuddeligen Gardinen leuchtete die Neonreklame der gegenüberliegenden Hausfassade.
»Ich formuliere es noch mal um: Die Nacht vom achtzehnten auf den neunzehnten Dezember vorigen Jahres. War er da den ganzen Abend weg oder war er auch mal zu Hause?«
»Wie zum Teufel sollte ich mich daran erinnern?«, zischte sie verächtlich.
Irgendwo schlug eine Tür zu. Bärneflod zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Tell erstarrte und schob seine Hand ans Pistolenhalfter. »Ist noch jemand in der Wohnung?«
Solveig Granith schüttelte den Kopf, begann jedoch nervös an ihrer Unterlippe zu kauen. Nach einem kurzen Blick auf seinen Chef stand Bärneflod auf.
»Dann stelle ich die Frage noch anders«, nutzte Tell die Gelegenheit. »Wo befanden Sie sich gestern Abend und gestern Nacht?«
»Ich muss Ihre Fragen nicht beantworten«, sagte sie ohne große Überzeugung.
»Wo befanden Sie sich in der Zeit, die auf diesem Zettel steht?«
»Ich kann mich nicht erinnern!«
Mit aufgerissenen Augen startete die Frau einen lächerlichen Angriff,
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