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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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Armbanduhr am Vorabend stehen geblieben sein musste. Es fühlte sich an, als hätte er Sand unter den Lidern, und die Sehnsucht nach seinem Bett war mittlerweile auch körperlich spürbar. Sogar seine Aktentasche kam ihm schwer vor. Bevor er sein Büro verließ, hatte er schnell noch die oberste Schicht eines Stapels von Protokollen, Rundschreiben und Hausmitteilungen eingesteckt, die zu lesen allein schon ein Vollzeitjob gewesen wäre. Er wollte einen oder zwei Tage zu Hause bleiben, um sie abzuarbeiten.
    »Christian!«
    Mit wenigen Schritten war Seja neben ihm. Nach kurzem Zögern deutete sie eine Umarmung an. Sie duftete leicht nach Vanille. »Seit einer halben Stunde versuch ich schon, zu dir vorzudringen. Das ist ja die reinste Festung hier«, versuchte sie zu scherzen.
    »Nein, eigentlich nicht«, gab er kurz angebunden zurück. »Ich habe darum gebeten, keine Gespräche durchzustellen und keine Besucher vorzulassen – ich war beschäftigt mit ...«
    »Oh, du bist beschäftigt?«, fiel sie ihm ins Wort. »Eigentlich wollte ich nämlich mit dir über ...«
    »Ja, ich bin beschäftigt.«
    Er beobachtete, wie sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern zwirbelte. Eine kindische Bewegung, die ihn auf die Palme brachte.
    »Ob du es glaubst oder nicht, in der Arbeit bin ich öfter mal beschäftigt. Und obwohl ich jetzt nicht mehr beschäftigt bin, werde ich auf direktem Wege nach Hause fahren, um mich hinzulegen.«
    »Ich verstehe.«
    Sie zögerte. »Ich wollte nur mit dir über ...«
    Da platzte ihm endgültig der Kragen. »Hör mir gut zu: Wenn du was von mir willst, was irgendwie mit der Arbeit zu tun hat, dann ruf mich morgen früh im Büro an.«
    Sie sah aus, als wollte sie ihren Ohren nicht trauen, und wich ein paar Schritte Richtung Ausgang zurück. »Christian. Mir ist klar, dass du furchtbar wütend auf mich bist. Vielleicht hast du ja recht, was weiß ich, aber ganz abgesehen davon kannst du mir doch wohl fünf Minuten deiner Zeit schenken. Ich glaube, ich habe dir etwas zu erzählen, was dich interessiert.«
    In seinem Innersten wusste Tell sehr gut, dass Seja gerade für alle möglichen Dinge büßen musste, an denen sie überhaupt keine Schuld trug: Sein eigener Verrat an Ann-Christine Östergren, seine peinliche Unfähigkeit, sich mit den großen Fragen auseinanderzusetzen: Leben, Tod, Liebe. Nähe.
    »Ich hab keine Forderungen an dich gestellt«, sagte sie ruhig, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Ich hab nicht verlangt, dass du dich zu irgendeiner Form von Nähe verpflichtest oder mir alles erzählst, was du tust und denkst. Deswegen begreife ich auch nicht, warum du so schrecklich wütend auf mich bist, weil ich dir nicht alles erzählt habe.«
    »Da besteht ja wohl ein Riesenunterschied.«
    »Ich bin heute hier, weil du wolltest, dass ich dir alles erzähle, was ich weiß. Es hat mit My zu tun, mit den letzten zwei Jahren ihres Lebens. Ich glaube, dass das, was ich dir berichten kann ...«
    »Jetzt ist es zu spät«, unterbrach er sie. »Es spielt keine Rolle mehr. Es ist vorbei.«
    Vor lauter Feigheit wechselte er die Aktentasche umständlich von der einen Hand in die andere, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Als er davonging, fühlte er ihren Blick in seinem Rücken brennen.
    Als sie daran dachte, wie sie eng umschlungen auf dem Bett unter der Dachschräge gelegen hatten, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Doch eigentlich weinte sie eher aus Demütigung als aus Trauer. Vielleicht ein wenig Trauer um die Dinge, aus denen nun nie etwas werden würde. Um die unerfüllten Erwartungen.
    Sie hatte sich Hals über Kopf ins Ungewisse gestürzt, um mal wieder reichlich ramponiert aus der Geschichte hervorzugehen.
    Es kam ihr vor, als würden alle, die an ihr vorbeigingen, sie abschätzen und mit einem Blick feststellen, dass sie beschädigte Ware war, eine von denen, die immer wieder angerannt kamen. Wie ein Hündchen, das mit hängender Zunge angehechelt kommt, sobald jemand bereit ist, eine Runde mit ihm zu spielen.
    Die Dame am Empfang war eine Frau mittleren Alters, die ihr blondes Haar mit Kämmen hochgesteckt hatte. Sie zwinkerte und lächelte ihr mitleidig zu, und automatisch versuchte Seja ebenfalls ein höfliches Lächeln. Doch es wurde eher eine ungeschickte Grimasse daraus.
    Als die Wut in ihr hochstieg, war sie fast ein bisschen erleichtert.
    Vielleicht hätte sie Tells Ärger darüber verstehen können, dass sie ihre Erinnerungen an diesen Abend nicht mit ihm geteilt hatte.

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