Wintermord
übernehme ich«, erklärte Tell.
Michael Gonzales lehnte sich weit über den Tisch, sodass er stöhnend die Tafel erreichte. M.G. übernimmt Reino Edell schrieb er darauf. »Das ist meiner Meinung nach unser interessantester Mann«, verkündete er und ließ sich wieder auf seinen Stuhl zurücksinken. »Er ist nämlich der jüngere Bruder von Lise-Lott Edells erstem Mann, der mit ihr schon seit vielen Jahren im Streit liegt. Ich hab nachgeforscht, da gibt es ganze Regalmeter voll mit Gerichtsprozessen. Er findet, dass Lise-Lott Edell ihn ums Erbe seiner Eltern geprellt hat. Er ist scheißwütend, und die meisten Mörder sind irgendwie scheißwütend.«
»Ja, aber nicht jeder, der scheißwütend ist, wird gleich zum Mörder«, wandte Bärneflod altklug ein. »Außerdem ist mir nicht klar, was Edell davon gehabt haben sollte, Waltz umzubringen, der hat ja keinen rechtlichen Anspruch auf den Hof.«
»Sicher nicht, aber er hegte einen Groll gegen die beiden als Paar. Natürlich in erster Linie gegen Lise-Lott: Da klammert sich die Alte an den Hof wie ein Blutegel. Und plötzlich kommt dieser Waltz angewalzt und nimmt den Platz von Reinos geliebtem Bruder ein. Wie es aussieht, ging er ganz unbekümmert davon aus, dass sie auf dem Hof wohnen bleiben würden. Dass er die Landwirtschaft verkommen lassen, Brüderchens Frau bumsen und rostige Eggen fotografieren würde.«
»Ehrlich gesagt tipp ich ja eher auf die Ex-Frau«, beharrte Bärneflod. »Ich meine, da macht er sich nach zwanzig Jahren Ehe vom Acker und zieht mit einer neuen Frau zusammen. So was tut verdammt weh, und dass sie nach der Scheidung labil war, wissen wir ja von Lise-Lott Edell. Außerdem – findet ihr nicht, dass es eine ziemlich weibliche Art ist, einen Mord zu begehen? Erschießen und mit dem Auto überfahren? Da braucht man keine großen Kräfte. Man braucht nur ein robustes Auto.«
Bärneflod holte Luft und wartete auf Reaktionen.
»Eggen, Gonzales?«
Karin Beckman feixte.
»Ach, was weiß ich ...«
»Von allen, die in unserer Ermittlung auftauchen, werden die Autos überprüft und mit den Spuren vom Tatort abgeglichen«, ordnete Tell an. »Überlasst das Angered.«
Er seufzte, als Karlberg seine Kollegin versehentlich anrempelte, sodass sie ihren Kaffee über den Overheadprojektor verschüttete. Im gleichen Moment sprang eine Sicherung heraus, und der elektrische Adventskranz im Fenster erlosch.
»Okay. Schluss für heute.«
16
Der Weg von der Garage zur Haustür fiel leicht ab und war gut gestreut. Als Seja am Esszimmer vorbeikam, nahm sie eine Bewegung hinter der geblümten Gardine wahr. Trotzdem musste sie noch einen Moment warten, während Kristina die kleine Klappe von ihrem Türspion beiseiteschob. Seja winkte müde.
»Das ist wirklich nett von dir, Seja. Åke ist in der Stadt und tauscht eine Bohrmaschine um. Und dann will ich Kaffee trinken und hab prompt keinen Zucker im Haus!«
»Ist doch gar kein Problem.«
Seja reichte ihr die Plastiktüte mit dem Zucker, aber Kristina trat beiseite und winkte sie herein. »Komm doch rein, der Kaffee ist fertig. Nur der Zucker hat mir noch gefehlt.«
Seja unterdrückte einen Seufzer. Der Zucker war also nur ein Vorwand gewesen.
»Ich hab ziemlich viel zu tun, Kristina.«
Das war nicht mal gelogen. Sie musste lernen und außerdem einen Artikel schreiben, der ihr ein bisschen Geld in die Haushaltskasse brachte. Sie musste das morsche Brett von Lukas’ Box austauschen und die Dichtung der tropfenden Dusche erneuern.
Doch Kristina war schon auf dem Weg in die Küche. Seja streifte sich die Stiefel von den Füßen, wobei sie sich selbst das Versprechen gab, sich in nichts hineinziehen zu lassen. Sie ahnte bereits, worum es hier gehen sollte.
Als sie ins Esszimmer kam, hatte Kristina schon Tassen und einen Teller mit Lebkuchen und Husarenkrapfen hingestellt. Den Zucker hatte sie in ein Schälchen gefüllt.
»Du bist ja so selten hier, Seja«, begann sie und ließ sich schwerfällig in den gepolsterten Lehnstuhl am Kopfende des Tisches sinken. »Meistens triffst du ja nur Åke. Ich finde, wenn man Nachbarn hat, sollte man den Kontakt mit ihnen schon pflegen.«
Seja antwortete nicht. Auf ihre pflichtschuldigen Versuche, die alte Dame zu sich einzuladen, hatte sie immer nur freundliche, aber bestimmte Absagen bekommen, unter Hinweis auf allerhand Wehwehchen. Doch Seja hatte das Gefühl, dass die Gründe tiefer lagen: Kristina wollte einfach ihr Zuhause nicht verlassen.
Gerade wischte sie
Weitere Kostenlose Bücher