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Wintermord

Wintermord

Titel: Wintermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Ceder
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guter Tag. In der Dämmerung legte sich Nieselregen wie Nebel über Fiskebäck und das vernachlässigte Gärtchen vor dem Küchenfenster. Schon seit mehreren Tagen hatte sie die Lichterkette am Verandageländer nicht mehr angeschaltet. Außerdem war dieser Spannungskopfschmerz wieder da, der sich, von der Wirbelsäule ausgehend, an einem Punkt unter ihrem linken Auge konzentrierte. Sie massierte sich die Schläfen.
    Diesen Kopfschmerz trug sie schon lange mit sich herum. Viel zu lange.
    Die Physiotherapeutin, die zur Krankenstation des Präsidiums gehörte, war eine strenge Person mit weißem Kittel und – wie Karin Beckman fand – schrecklich durchdringendem Blick. »Es sieht so aus, als ob Ihr Kopf völlig getrennt vom Körper wäre«, erklärte sie, während Karin Beckman bäuchlings mit nacktem Oberkörper auf der Liege lag. »Sie scheinen Ihr ganzes Leben nur in der Theorie zu leben. Als ob Sie überhaupt keinen Kontakt zu Ihrem Körper hätten. Als ob Sie ihn überhaupt nicht spüren wollten. Und dagegen protestiert er eben.«
    Sie war ebenso verlegen wie gereizt. Schließlich war diese Frau Krankengymnastin und keine Hellseherin. Als sie begann, ihr den gekränkten Körper zu massieren, wurde das Gerede nur noch schlimmer.
    »Oft setzen sich unausgesprochene Wahrheiten in den Muskeln fest und werden dort zu Schmerzen. Viele haben Schmerzen im Kiefer oder sogar in den Zähnen, quasi symptomatisch. Sie haben Verspannungen in Ihrem Körper, die zu Entzündungen geworden sind. Wenn Sie nicht aufpassen, können Sie chronisch krank werden.«
    Karin Beckman ging nie wieder zu ihr. Stattdessen suchte sie einen anderen Arzt auf und bekam Diclofenac verschrieben. »Sie sollten Sport treiben«, empfahl er. »Gehen Sie ins Fitness-Studio oder zum Schwimmen.«
    Tatsächlich ging sie anfangs nach der Arbeit brav ein paar Bahnen schwimmen, kam aber zu dem Schluss, dass es die stressbedingten Symptome wohl kaum positiv beeinflussen würde, wenn sie sich ständig mit dem schlechten Gewissen herumplagte, weil sie ihr Sportprogramm doch nicht regelmäßig in ihren verplanten Alltag integrieren konnte.
    In ihrer Jugend hatte sie Tennis gespielt. Jetzt fragte sie sich, ob Christian Tell wohl Tennis spielte. Als Kollegen mochte sie Tell sehr gern, sie waren kompatibel, wie es so schön heißt. Obwohl er immer wieder mal etwas polternd auftrat, respektierte sie ihn. Doch der Gedanke, ihn in ihrer Freizeit zu treffen, war geradezu absurd.
    Wahrscheinlich war es die Privatperson Christian Tell, die so absurd schien – wenn sie denn überhaupt existierte. Am Arbeitsplatz sprach er nie von seinem Privatleben. Irgendwie lag die Vermutung nahe, dass er außerhalb des Jobs überhaupt kein nennenswertes Leben hatte. Aber was wusste sie schon? Gar nichts.
    Sie überlegte kurz, ob die Kollegen wohl auch über ihr Privatleben nachdachten. Wahrscheinlich wirkte sie genauso verschwiegen. War sie eigentlich schon immer so gewesen? Plötzlich wurde sie unsicher, wie stets, wenn sie über etwas nachdachte, was in der Zeit vor Göran lag.
    Die wenigen Freunde, mit denen Karin Beckman Umgang pflegte, hatte sie kennengelernt, nachdem Göran und sie vor zehn Jahren zusammengekommen waren. Zumindest hatte sie Umgang mit ihnen gepflegt – bevor sie Kinder bekam und ihr Leben hinter einem unrealistischen Zeitplan verschwand, der nicht den geringsten Raum für Spontanität ließ.
    Ja, am Arbeitsplatz empfand man sie wohl als verschlossen. Als »betont unabhängig«, und das gefiel ihr sogar.
    Als Karin Beckman noch keine Kinder hatte, saß sie einmal in aller Herrgottsfrühe mit verweinten Augen in der Kaffeeküche, als plötzlich Renée Gunnarsson reinplatzte. Göran war nach einem zermürbenden Streit verschwunden und seit mehreren Wochen nicht mehr aufgetaucht, und um nicht allein im Haus zu sein, war Karin jeden Morgen noch vor Anbruch der Dämmerung zur Arbeit gefahren. Dort saß sie dann in ihrem Büro und starrte auf die Scheidungspapiere.
    Als Renée sie in den Arm nahm und ihr Trost zusprach, brachen alle Dämme. Karin Beckman konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Sie erzählte, wie einsam sie sich in den Jahren ihres Zusammenlebens mit Göran gefühlt hatte, wie sie der Person, für die sie sich gehalten hatte, immer unähnlicher wurde und sich in eine Frau verwandelte, die sie weder kannte noch sonderlich mochte.
    Hinterher schämte sie sich, weil sie sich so schwach gezeigt hatte. Sie schämte sich, weil Göran einige Wochen später

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