Wintermord
sich eine unsichtbare Schweißperle von der Stirn, als ihr Blick auf die Thermoskanne fiel, die noch in der Küche stand, und sie machte Anstalten, sich wieder aus ihrem Stuhl zu hieven.
Doch Seja hielt sie zurück. »Nein, lass nur. Ich hol sie schon.«
Am Wasserhahn blieb sie kurz stehen und trank ein Glas Wasser. In der Spüle stand eine verwelkte Topfpflanze.
»Die Polizei hat angerufen«, hörte sie Kristinas Stimme.
»Sie ... wollten Åke sprechen.« Die Stimme kippte fast schon ins Falsett.
Seja drehte sich um. Der Türbogen zwischen Küche und Esszimmer wirkte wie ein Rahmen um Kristina. Das soll jetzt also meine Aufgabe sein?, dachte Seja gereizt. Diese besorgte Frau beschwichtigen?
Doch Kristina Melkersson sah sie flehentlich an. Ihre fülligen Oberschenkel waren gespreizt, die Handflächen lagen verkrampft auf den Knien, und ihr Doppelkinn zitterte. »Åke ... erzählt ja nie was, er ...«
Seja ging zurück ins Esszimmer. »Es gibt auch nichts zu erzählen.«
Das war eine Spur zu schroff. Sie goss Kaffee und Sahne in die Tassen. »In einer Werkstatt lag ein Mann. Er war schon tot, als Åke kam. Åke hat dann die Polizei angerufen, das war’s.«
»Er ist doch aber ermordet worden!«
Seja wich Kristinas Blick aus und fixierte ein gerahmtes Foto auf dem Sideboard: eine junge Frau mit kunstvoll aufgetürmtem Haar, ein verlegenes Hochzeitsfoto. Die Grübchen beim Lächeln hatte Kristina immer noch. Ansonsten hatten die Jahre und die Schmerzmittel ihr Gesicht so stark verändert, dass es kaum wiederzuerkennen war.
Als sich eine geschwollene Hand auf ihre legte, musste Seja sich zusammenreißen, um nicht auszuweichen.
»Aber was wollen sie denn nun von Åke?«
Seja machte sich aus ihrem Griff los. Sie hatte sich anstrengen müssen, um das Bild des Toten so weit zu verbannen, dass es ihren Alltag nicht tangierte. Der Tatort sollte erst beim Schreiben Stück für Stück wieder in ihren Gedanken entstehen. Damit sie ihn bearbeiten und schließlich hinter sich lassen konnte. Die Synonyme schwirrten ihr durch den Kopf: isolieren, verdrängen, bearbeiten.
Nun brachte Kristinas Besorgnis ihr hart erkämpftes Gleichgewicht ins Wanken. Das Mitgefühl, das sie sonst für die furchtsame alte Frau spürte, schwand dahin, und Seja hatte plötzlich nur noch Verachtung für sie übrig.
»Das ist doch Routine, das gehört zur Polizeiarbeit. Er hat die Leiche gefunden. Sie wollen einfach noch mal der Reihe nach hören, was er gesehen und gemacht hat. Daran ist doch nichts Seltsames.«
Sie wollte gehen und zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln, während sie sich erhob. »Ehrlich gesagt, Kristina – du musst mit Åke darüber reden.«
»Aber der sagt doch nie was! Er will mich nicht beunruhigen, aber nichts beunruhigt mich mehr, als wenn ich nichts erfahre ... Dann kann ich mir doch das Schlimmste vorstellen, verstehst du?«
»Und was sollte das sein?«, entfuhr es Seja. Widerwillig ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen.
Kristina Melkersson runzelte die Stirn, sodass sich eine tiefe Falte über ihrer Nasenwurzel bildete. »Was hast du überhaupt dort gemacht? Warum warst du dort?«
Irgendetwas an ihrer verstörten Nachbarin rührte sie. Deutlich war ihr anzusehen, wie sich die Angst vor einer Welt, die sich immer schneller veränderte, in sie hineingefressen hatte.
»Der Holzbock«, erwiderte Kristina Melkersson. »Nein, ein Weltkrieg. Krebs. Dass unser Junge bei einem Unfall ums Leben kommt. Oder die Enkel.«
»Was?«
»Du hast doch gefragt, was das Schlimmste wäre.«
Seja seufzte. »Jetzt muss ich wirklich gehen. Ruf an, wenn du Hilfe brauchst.«
Kristina Melkersson zuckte nur mit den Schultern. Auf einmal wirkte sie so geistesabwesend, als wäre ihr alles egal.
Bevor Seja ging, spülte sie noch ihre Tasse unter dem Wasserhahn und stellte die Sahne in den Kühlschrank. Als sie wieder am Esszimmerfenster vorbeiging, hatte Kristina die Vorhänge zugezogen, wie immer bei Einbruch der Dunkelheit. Damit man den Kristallleuchter von draußen nicht sah.
Seja nahm die Abkürzung über die Wiese.
17
Karin Beckman warf die Morgenzeitung auf den Tisch. Die Schlagzeilen beschäftigten sich nicht groß mit dem Mord in Björsared, es gab nur eine kleine Meldung, dass man in einer Werkstatt in Olofstorp einen Landwirt tot aufgefunden hatte und dass es sich wahrscheinlich um Mord handelte.
Sie goss sich den ersten Kaffee des Tages ein und hoffte, dass er sie etwas munterer machen würde. Heute war kein
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