Wintermord
enttäuscht von ihrem Gedächtnis. Sie lächelte tapfer, als Gonzales ihr seine Visitenkarte gab: »Melden Sie sich, wenn Ihnen doch noch was einfällt. Es könnte sein, dass wir Sie ins Präsidium bestellen, um den Mann einem Phantomzeichner zu beschreiben.«
Sie nickte verbissen, ohne ihren Blick jedoch von dem kleinen Süßigkeiten-Regal zu nehmen, das direkt vor ihr stand. »Er hat Läkerol gekauft.«
Die Polizisten drehten sich hoffnungsvoll zu ihr um.
»Er hat eine Schachtel Läkerol gekauft«, wiederholte sie. »Und ein abgepacktes belegtes Brötchen.«
Sie starrte weiter auf die Lutschtabletten, als könnte sie damit das Bild des Mannes wieder heraufbeschwören, der sie gekauft hatte.
Mit geschlossenen Augen versuchte sie sich vorzustellen, wie sie selbst an jenem Abend ausgesehen hatte. Das gestreifte Shirt mit dem Tankstellen-Logo, das müde Dienstleistungslächeln. Ihre Hände auf der Kasse und dann er: blondes Haar und eine Baseball-Kappe . »Ich weiß nicht mehr, ob auf der Baseball-Kappe irgendein Logo war, aber ich glaube, sie war schwarz. Er hatte ziemlich tief liegende Augen und dunkle Augenringe, als hätte er schon seit ein paar Nächten keinen Schlaf mehr gekriegt. Für einen Mann waren die Lippen irgendwie zu rot, wie ein Kussmund sah das aus. Ich glaube, er war eher klein oder höchstens mittelgroß. Er trug eine Art Daunenjacke oder vielleicht eine Windjacke. Obwohl es ziemlich kalt war.«
Tell und Gonzales schwiegen. Sie dachten dasselbe: Es gab überhaupt keine Garantie, dass der Mann, dessen Beschreibung sie gerade hörten, ihr Mörder war, aber immerhin hatten sie zum ersten Mal eine heiße Spur.
Die Bundesstraße zwischen Borås und Ulricehamn war trotz Hauptverkehrszeit nicht besonders stark befahren. Tell überschritt sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen, und Gonzales dachte, wie so oft, dass Polizisten wahrscheinlich die schlimmsten Verkehrssünder von allen waren.
Er drehte am Radio herum und blieb bei den Nachrichten hängen. Bis jetzt waren die Medien noch nicht auf den Mord an Olof Bart aufmerksam geworden. Solange sie nicht Wind von dem Zusammenhang zwischen Bart und Waltz bekamen, war es auch unwahrscheinlich, dass sie viel Aufhebens davon machen würden. Das passte der Polizei nur zu gut in den Kram: Solange der Mörder nicht wusste, dass sie die Morde miteinander in Verbindung brachten, hatten sie noch einen Vorsprung.
Wie für den schwedischen Winter typisch, zog sich die Dämmerung nicht lange hin. Als sie in Ulricehamn ankamen, war es bereits stockdunkel.
Nach einigen Irrwegen hatten sie Johansson & Johansson ausfindig gemacht. Die Mietwagenfirma lag in einem kleineren Industriegebiet an einer Ausfallstraße zwischen einem Farbengeschäft und einem Lagergebäude. Das spärliche Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen aus Schmelzwasser und Benzin. Nachdem sie das Auto vor dem Eingang geparkt hatten, hob Tell die Nase witternd wie ein Jagdhund. In der Luft lag ein Geruch wie von verbranntem Plastik.
Hundemüde und mit knurrenden Mägen betraten Tell und Gonzales die Autovermietung.
Berit Johansson hatte sie offensichtlich schon erwartet, denn sie hatte eine Thermoskanne Kaffee und einen Teller mit Kuchen auf dem Tresen bereit gestellt. »Ich schließe kurz ab«, sagte die Frau und nahm dann gegenüber von Tell und Gonzales Platz, die sich bereits ungeniert am Kuchen bedient hatten.
»Ja, greifen Sie nur zu«, ermunterte sie sie unnötigerweise.
»Sie haben in der Zeitspanne, die uns interessiert, einen Grand Cherokee vermietet«, begann Tell. Er kaute zwar noch, war aber viel zu müde und ausgehungert, um sich noch groß um Höflichkeit zu scheren.
»Yes«, bestätigte die Frau und faltete ein Blatt auseinander, das sie in der Brusttasche ihrer Bluse gehabt hatte. Sie setzte ihre Brille auf und begann zu lesen: »Er war am Mittwoch ungefähr zwischen halb sechs und sechs hier. Mittwochs hab ich immer bis sieben auf. Und zwischen den Jahren habe ich grundsätzlich geöffnet, denn da verdienen wir immer ziemlich gut. Es gibt viele, die sich ein Auto leihen, um in den Ferien ihre Verwandten und Freunde zu besuchen.«
Tell nickte nachdenklich. Wenn dieser Kunde ihr Mann war, hatte er sich das Auto einen Tag vor seinem Besuch bei Olof Bart gemietet. Im Grunde durchaus möglich. Er überlegte, was für Schlüsse sich daraus ziehen ließen. Wohnte er in der Gegend um Ulricehamn? Andererseits wäre er ja schön dumm, wenn er sich das Auto in der
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