Winternacht
Gleichgewicht, doch er wandelte auf einem schmalen Grat.
Und dann flatterte seine Stimme wie aufgewehte Blätter um mich herum. »Cicely. Sieh tief ins Innere. Finde den Teil in dir, der mit der Eule in Verbindung steht. Such die Uwilahsidhe in dir.«
Ich ließ mich tiefer sinken und folgte dem Weg in mein Inneres. Der Windschatten erschien mir schon sehr weit fort, während ich mich tiefer und tiefer in mich selbst herabließ und seiner Stimme folgte. Ich ließ mein ermattetes Äußeres zurück, die Angst, die Erschöpfung, all die Verluste, und drang in den innersten Kern ein, wo mich ein warmes Leuchten empfing. Und dort … dort wartete die Eule. Meines Vaters Erbe.
»Nutze diese Kraft. Nutze die Reserven. Dort liegt noch so viel Energie, die du dir nutzbar machen kannst. Spür, wie dein Geist sich wieder aufrichtet, wie er auf den Schwingen der Eule emporgetragen wird. Verwandle dich nicht körperlich, sondern lass dich von der Eule in die Lüfte mitnehmen, dich von der Müdigkeit befreien, dich wieder aufrichten. Kannst du das?«
Ich atmete tief ein und nahm Verbindung zu der Eule auf. Und plötzlich ging ein Energieschub durch meinen Körper, erneuerte mich von innen heraus, pustete Luft durch mein Haar, unter meine Schwingen, und mich durchströmte das Glücksgefühl, aufzusteigen, doch ich nahm keine Eulengestalt an.
»Kannst du es fühlen?« Die Stimme glitt über die Worte, verführerisch, zweideutig.
»Ja«, flüsterte ich.
»Fordere es ein. Hol es hervor. Zapf es als Quelle an.«
Und so forderte ich meine Cambyra-Seite ein, und meine Zweifel fielen von mir ab, all die Sorgen, dass ich nicht gut genug sein könnte. Und dann spürte ich, wie ich erneut aufstieg und in den Windschatten zurückkehrte.
»Ja, genau, komm zurück, komm ins Hier und Jetzt zurück. Komm erfrischt und voller neuer Energie, denn nun kennst du die Kraft in dir und weißt, wie du sie anzapfen kannst.«
Weiter stieg ich aufwärts, verließ den Windschatten und war wieder hier. Ich schlug die Augen auf. Noch immer spürte ich Erschöpfung, aber sie war nicht mehr so vernichtend wie zuvor, mein Körper schmerzte nicht mehr. Aber das Beste war, dass mein Kopf vollkommen klar war, und mir wurde bewusst, dass ich erst jetzt wieder vernünftig denken konnte.
»Danke.« Ich nahm Grieves Hand und führte sie an meine Lippen. »Ich liebe dich so sehr.«
»Du bist mein Ein und Alles.« Er streckte die Hand aus und streichelte meine Wange. »Das meine ich ernst, Cicely. Du bist der Grund, warum ich Myst widerstehen kann, warum ich den Mut habe, auch als das Ungeheuer, das ich bin, weiterzuleben.«
»Du bist kein Ungeheuer. Du bist ein Feenprinz. Die Wächterin in Lainules geheimer Kammer hat dich den verwundeten König genannt, und das bist du. Du bist tief getroffen, doch trotz all der Gefahren, denen du begegnen musstest, trotz allem, was du durchlebt hast, hast du auf mich gewartet, und du tust alles, um das giftige Blut in dir zu zügeln.« Wieder küsste ich seine Hand. »Wir werden das Ritual durchführen und tun, was immer wir können, um dir zu helfen, Mysts Ketten abzustreifen.«
»Wenn Myst sterben würde, dann könnte ich all das vielleicht leichter im Zaum halten.«
»Sie wird sterben. Wir finden ihren Schwachpunkt und beuten ihn aus. Ich bin dir angeschworen, und ich werde tun, was immer ich muss, um sie zu töten.« Ich blickte in seine Augen. Liebe durchflutete mich, und mein Herz schwoll an.
»Komm, lass uns gehen. Altos braucht uns. Auch wenn der Feind heute schon angegriffen hat, will ich das Risiko nicht eingehen, ihn allein zum Sender gehen zu lassen.«
Grieve erhob sich und nahm meine Hand. Er zog mich zur Tür, und ich folgte ihm. Ich war bereit, dem entgegenzutreten, was immer auf der anderen Seite auf uns warten mochte.
Die Wachleute eskortieren uns zu den Wagen. Lannans Crew folgte uns. Wir stiegen in die Stretchlimo, Lannan vorn zum Fahrer, während Grieve, Chatter, Rhiannon, Peyton, Kaylin, Wrath und ich hinten Platz nahmen. Zoey, Luna und Rex sollten in der Villa bleiben. Rex’ Zustand ließ keinen weiteren Kampf zu, und Luna und Zoey wollten das Ritual vorbereiten.
Lainules Krieger – die überlebenden – würden am Sender auf uns warten. Sie wollten kein Auto nehmen, versicherten uns jedoch, dass es in Ordnung war. Die überlebenden Mitglieder des Konsortiums, Ysandra eingeschlossen, nahmen eine weitere Limousine, die ebenfalls von Lannans Wachleuten eskortiert wurde.
Die Straßen lagen still
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