Winternacht
den Kreis, und als sie wieder sprach, begriff ich, warum sie damit so geizig umging. »Mit diesem Ring aus Silberspänen umgebe ich dieses Ritual, auf dass nichts Unwillkommenes eindringt und nichts von innen nach draußen entweicht.«
O Shit . Silber! Wir mussten unbedingt nachher gründlich aufräumen und putzen, oder Lannan würde uns vierteilen. Fegen und wischen. Mehrmals!, ermahnte ich mich innerlich. Vampire verabscheuten Silber. Mich jedoch peppte das Edelmetall auf wie ein starker Espresso – oder auch zwei. Aber nach dem Fischvorfall war ich sehr vorsichtig, was Mahlzeiten anging, die von dem hiesigen Personal zubereitet worden waren. Kaylin hatte dafür gesorgt, dass unser Frühstück mit äußerster Sorgfalt gemacht wurde, damit ich keine weitere böse Überraschung erleben musste.
Zoey stellte die Schüssel ab und zog einen Dolch hervor. Der Griff war nicht aus Silber gefertigt – Lannans Wachen hätten niemals zugelassen, dass ein Fremder Waffen aus Silber mitbrachte –, sondern aus Geweih und Knochen, und die Klinge sah ziemlich gefährlich aus.
Nun hielt sie sie mit ausgestrecktem Arm in der linken Hand und setzte sich im Uhrzeigersinn um uns herum in Bewegung, um den Zirkel zu erschaffen. »Zirkel der Kunst und Zirkel der Macht, ihr Geister uns den Kreis erschafft, mit Salz und Schwefel und unserem Gesang, mit Silber und Salz und der Trommel Klang.«
Auf dieses Stichwort begann Luna einen tiefen Ton zu singen. Ihre Stimme klang fast, als würde eine zweite Person mit ihr singen, und während Zoey sich durch den Raum bewegte, folgte dieser Ton ihr nach, stieg und fiel in merkwürdigen Intervallen, und nach einem Augenblick wurde mir klar, was Luna tat: Dort, wo die Energie schwächer war, senkte sie die Stimme zu einem tiefen Summen, das eine Brücke bildete. An den Stellen im Ring, an denen genug Energie floss, stieg ihre Stimme an, als würde sie nur die Oberfläche glätten, und ich begriff, dass Luna mit ihrem Gesang die Lücken füllte.
Sie hatte die Augen geschlossen und die Arme erhoben und wiegte sich im Einklang mit dem Energiefluss vor und zurück. Sie zauberte mit ihrem Lied, mit Noten und Tönen, genauso wie es jemand mit Worten und Sprüchen tat.
Ich schloss ebenfalls die Augen und gab mich der Melodie hin. Und plötzlich befand ich mich im hellen Mondschein auf einem hohen Felsvorsprung, und der Wind rauschte durch mein Haar. Unter mir erstreckte sich ein Wald so weit in die Ferne, dass ich das Ende nicht sehen konnte. Schnee und Frost lag über den Wipfeln, aber diese weiße Pracht war nicht beklemmend wie Mysts Schnee. Dieser hier fühlte sich normal und kristallklar an, ein Winter, der kam und ging, wie es den Jahreszeiten entsprach. Ich blickte hinauf zum vollen Mond, über den dicke Wolken hinwegjagten, und er rief nach meiner Eulengestalt und lockte mich.
Der Wind pfiff an mir vorbei, und ich spürte Ulean in der Wirbelströmung tanzen. Ich wollte mich verwandeln und hinab in den Wald segeln, weil ich dort hingehörte, aber ich tat es nicht, denn ich wusste instinktiv, dass ich mich der Luft bemächtigen und ihrem Lied lauschen musste.
Ich ließ mich in den Wind herabsinken, spürte die Essenz von Klarheit, ja, Klarsicht. Mir wurde bewusst, dass mein Verstand seit Wochen – vielleicht Jahren – nicht mehr so wach und geschärft gewesen war. Mein Ritt auf dem Wind hob mich weit über die mir bekannte Welt hinaus, und ein seltsamer Friede machte sich in mir breit.
Nach und nach verklang die Melodie, meine Lider flatterten, und als ich die Augen aufschlug, fand ich mich wieder in dem Raum unseres Rituals. Zoey beendete gerade den Zirkel, und Lunas Gesang erstarb mit einem Flüstern.
Traurigkeit legte sich über mich. Ich wollte zurück zu diesem Ort, dort bleiben und mich von der Energie, die dort beständig geflossen war, durchdringen lassen, und als ich zu Rhiannon und Chatter hinübersah, konnte ich ihren Mienen ansehen, dass sie sich ähnlich fühlten. Wraths Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, und auch Kaylins blieb unlesbar. Langsam stieß ich den Atem aus. Wir alle mussten klar und fokussiert bleiben, daher ließ ich das Gefühl des Verlusts aus mir herausströmen.
Zoey entzündete eine grüne Stumpenkerze, die auf einem Tischchen neben ihr stand, und wandte sich an Chatter. »Du kannst nun das Element der Erde anrufen.«
Chatter räusperte sich und senkte den Kopf. Er streckte die Arme aus, drehte die Handflächen nach unten und stieß einen tiefen
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