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Winternacht

Winternacht

Titel: Winternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmine Galenorn
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vibrierenden Laut aus – kein Lied wie Lunas, sondern ein gutturales Grollen aus seinem Inneren, aus der Tiefe seines Wesens. Es war wie eine Verschiebung von Erdplatten, das Beben von Bergen, das Echo aus unterirdischen Höhlen.
    »Ihr, die ihr Bein und Stein und Kristall seid. Ihr aus Ast und Zweig und Blatt. Ihr, die ihr die elementaren Kräfte der Erde seid, ich rufe euch. Ihr Gebeine der Welt, fleischgewordenes Fundament und Offenbarung, ich bitte euch her. Leib und Gebeine, o elementare Kraft der Erde, ich flehe dich an, den Kreis zu betreten und deine Essenz in dieses Ritual zu speisen.«
    Die Holzbalken knarzten, und als Wurzeln, Zweige und Blätter sich regten, hallte ein Schrei durch das Gerippe des Herrenhauses. Die Energie arbeitete sich in unseren Raum, umkreiste uns und legte sich in einem dichten braungrünen Nebel über Grieve, quoll in alle Ecken und drückte uns nieder. Ich fühlte mich, als hätte ich plötzlich zwanzig Pfund mehr auf den Knochen, als die Schwerkraft zupackte und mich am Boden festhielt, und dann drang ein Energieschub, so knorrig und stark wie ein Eichenast, durch meine Füße aufwärts und breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Der dichte Dampf sammelte sich in dem Ring aus Salz, Schwefel und Silber, und dann war plötzlich alles wieder normal. Chatter senkte langsam die Arme; auf seinen Lippen lag ein schwaches Lächeln.
    Zoey zündete eine weiße Kerze an und deutete auf mich. »Ruf die Winde. Und werde nicht ihresgleichen.«
    Zu einer anderen Zeit hätte ich ihr sicher einen wütenden Blick zugeworfen, aber mir war klar, dass sie es ernst meinte und mich nicht einfach maßregeln wollte. Zumal sie recht hatte. Das hier war nicht der Zeitpunkt, die Kräfte des Fächers – offenbar nun auch meine Kräfte – freizulassen. Ich nickte ihr zu und sog tief die Luft ein. Noch nie hatte ich die Winde hochoffiziell zu mir gerufen, auch wenn ich seit meiner Kindheit mit ihnen spielte.
    Ich konzentrierte mich und rief mir den Berggipfel in Erinnerung, zu dem Lunas Lied mich getragen hatte. Das war das Gefühl, das ich herholen musste. Da ich überhaupt nicht singen konnte, suchte ich in mir nach dem Ton, der das Gefühl des Gipfels repräsentierte. Als ich glaubte, ihn gefunden zu haben, sang ich eine klare Note, hielt sie einen Moment lang fest und ließ sie dann verebben.
    »Geister des Windes, Geister der Luft, ich rufe euch. Ihr, die ihr die frische Frühlingsbrise seid, kommt zu mir. Ihr, die ihr der warme Luftstrom der Sommerabende seid, hört mich an. Ihr, die ihr die kühlen Böen des Herbstes und die kalten Nordwinde des Winters seid, kommt her in diesen Kreis. Ihr seid der Atem unserer Leiber, die Luft, die uns am Leben hält, kommt und gesellt euch zu uns.« Da ich mir nicht sicher war, was ich sagen sollte, ließ ich die Worte einfach so fließen, wie sie mir in den Sinn kamen. »Du, die du Kommunikation und Gedanke, die du Klarsicht und Intuition bist, komm in unseren Kreis, und hilf uns bei unseren Riten. Du, elementare Kraft der Luft, ich rufe dich zu uns in den Zirkel, auf dass deine Kräfte das Ritual speisen.«
    Ich brach ab, als eine starke Bö in den Kreis stieß. Wo die Dämpfe der Erde uns niederzudrücken gedroht hatten, schien der Wind uns von den Füßen reißen zu wollen. Es war ein wahnwitziges, aufregendes, prickelndes Wirbeln und Hin- und Herzupfen, und plötzlich merkte ich, dass ich lachte. Den anderen erging es nicht anders, aber so plötzlich, wie es begonnen hatte, zogen die Winde wieder ab, und was blieb, war eine kristallene Klarheit, die mir einen Kloß in die Kehle trieb. Jetzt schien nichts mehr verschwommen, nichts mehr undeutlich, Stagnation schien unmöglich.
    Zoey lächelte und nickte mir zu. Ich hätte gern gewusst, was Ysandra wohl von dieser Akazzani-Frau hielt, aber bevor ich in dieser Richtung weiterdenken konnte, zündete sie die rote Kerze an und deutete auf Rhiannon.
    Rhia rief die elementare Kraft des Feuers an, und im funkelnden Licht tanzender Flammen heizte sich der Raum beträchtlich auf. Anschließend war mein Vater mit dem Wasser an der Reihe, und eine Woge Herbstmelancholie überspülte mich mit den Sorgen und Freuden der vergangenen Wochen. Nur einen Moment später wurde ich davon reingewaschen.
    Als alle Elementarkräfte herbeigerufen worden waren, trat Kaylin in den Kreis und hielt die Hände hoch. Er ließ den Kopf zurückfallen, und für einen Augenblick sah ich den Schatten einer fledermausartigen Gestalt aus ihm

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