Winternacht
Sonne hatte liegen lassen.
»Cherish …« Kein Hauch von Triumph lag mehr in seiner Stimme, und in seiner Miene las ich Furcht und Verwirrung.
In diesem Moment hätte ich ihn töten können. Ich hätte ihm die Kehle herausreißen und ihn zerfetzen können, aber ich stand genau wie er unter einem Bann. Ich suchte in meiner Erinnerung nach etwas, um meine Gefühle zu entschlüsseln, aber ich hatte so etwas noch nie gefühlt, hatte noch nie jemanden auf diese Art begehrt. Und noch nie hatte ich jemanden verschonen wollen. Ich hatte in den vergangenen Jahren unzählige Wesen getötet und kein einziges Mal in Frage gestellt, was ich da tat.
»Shy …« Meine Stimme bebte, und ich begann zu weinen. »Was geschieht mit mir? Was ist das für ein Gefühl? Ich will das nicht.«
Er breitete seine Arme aus. »Cherish?«, flüsterte er, und ich konnte mich ihm nicht widersetzen. Ich kam in seine Umarmung, und er legte die Lippen auf meine, während seine Arme mich schützend hielten.
Und als wir miteinander verschmolzen, erkannte ich, dass ich verloren war. Das Kleinod des Winters war dem Sommer in die Hände gefallen, und mit diesem Kuss hatten wir unseren Untergang besiegelt.
Aber ich war gewillt, für diesen Kuss zu sterben.
8. Kapitel
A ls Grieve und ich uns voneinander lösten, kehrte ich aus meiner Erinnerung zurück. Ein Geräusch ließ mich aufschrecken, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass jemand an die Tür klopfte. Ich hätte Grieve gern gefragt, ob er sich an unsere erste Begegnung als Shy und Cherish genauso erinnerte wie ich, aber nun war keine Zeit dazu. Ich zog mir einen Morgenmantel über und ging an die Tür. Draußen stand Rhiannon.
Sie spähte hinein, errötete leicht, sagte aber: »Lannan ist zurück, und er hat Neuigkeiten. Und glaub mir, Cicely, diese Neuigkeiten willst du hören! Kommt besser beide!«
Wenn Lannan Neuigkeiten ankündigte, dann waren sie wahrscheinlich wichtig. Ich zog mich eilig an. Grieve hielt mich zurück.
»Ich weiß es, Cicely.«
»Was weißt du?«
»Was im Blutfieber passiert ist. Chatter hat es mir gesagt.«
Verdammt! Grieve hatte gewusst, dass ich von Lannans Blut hatte trinken müssen, aber ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich beinahe mit dem Vampir gevögelt hätte. Im Blutfieber war ich nicht mehr ich selbst gewesen, und im Delirium hatte ich mich ihm geöffnet. Er war noch nicht ganz in mich eingedrungen, als die anderen uns ertappt hatten, doch seitdem reagierte mein Körper äußerst heftig auf Lannan. Ich wusste, dass es an dem Blut lag, das ich getrunken hatte, aber ich hatte keine Wahl gehabt: Crawl, das Orakel des Karmesin-Hofs, hatte mich beinahe ausgesaugt, und nur Lannans Blut hatte mich davor bewahrt, ins ewige Schattenreich befördert zu werden.
Dennoch würde ich Chatter dafür erwürgen. »Er hat es dir erzählt?«
Grieve lächelte schwach. »Er hielt es für klüger, dass ich es von ihm höre und nicht von Lannan. Ich finde den Gedanken scheußlich, aber ich weiß, dass es notwendig war und dass du es vielleicht noch einmal tun musst, wenn du je wieder in eine solche Lage kommst. Aber wenn er dir weh tut, bringe ich ihn um.« Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
Traurig sah ich zu ihm auf. »Ich kann nicht ändern, dass mein Körper auf ihn reagiert, mein Herz jedoch hat keine Probleme, ihm zu widerstehen. Der Gedanke, dass er mich anfasst, widert mich an, aber wenn er mich berührt, wird alles andere in den Hintergrund gedrängt. Eines musst du mir aber glauben, Geliebter: Niemals werde ich mich freiwillig in seine Arme begeben, niemals in sein Bett schlüpfen, wenn ich eine andere Wahl habe. Im Blutfieber … im Blutfieber hatte ich keine Wahl. Es war wie …«
»Wie der Hunger, der mich verzehrt, seit Myst mich verwandelt hat«, flüsterte er leise. »Deswegen habe ich dir ja gerade gesagt, dass ich es verstehe. Ich wehre mich gegen meine Natur, aber wenn Myst direkt vor mir stünde, wäre der Wille zu gehorchen wahrscheinlich übermächtig. Wir beide, meine Geliebte, werden beherrscht von Zwängen, die stärker sind als wir, doch wir wehren uns und geben ihnen nicht einfach nach.« Seine Lippen suchten meine, und wieder gab es für einen Moment nur ihn und mich und unsere Liebe.
Schließlich ließ er mich widerstrebend los. »Komm, wir sollten jetzt zu den anderen gehen.«
Ich ließ ihm den Vortritt und folgte ihm.
Lannan saß zurückgelehnt am Tisch und bedachte uns mit dem Hauch eines Lächelns, als wir die
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