Winternacht
wuchs, und Myst hatte mir erklärt, dass unsere Art sich noch entwickelte, da sich das Vampirblut in unserem Erbgut erst langsam voll niederzuschlagen begann. Die Unbefleckten des Dunklen Hofs hatten uns vertrieben, daher hatten wir neues Land gesucht, wo wir ungestört unserem Wesen gemäß existieren konnten.
Wieder das Geräusch aus dem Wald. Jemand kam über den Pfad näher. Ich wartete und ließ ihn herankommen. Ich konnte ihn wittern – er war definitiv männlich, doch er roch nach Apfel und saftigem Gras, Heu und Sommertagen und nicht nach Hirschtalg und Leder.
Triumphierend sprang ich hinter dem Baum hervor und ließ meine Reißzähne im Mondlicht aufblitzen, doch dann schien plötzlich die Zeit einzufrieren. Statt mich über ein Festmahl herzumachen, starrte ich mein potenzielles Opfer an. Es war groß, hatte olivfarbene Haut, langes, glänzendes Haar und topasblaue Augen. Es legte den Kopf schief und betrachtete mich neugierig.
Stürz dich auf ihn, du Närrin. Tu es – du kannst es. Die Stimme in meinem Kopf war drängend, aber ich stand dennoch nur da und starrte die Gestalt an.
»Also – willst du mich jetzt umbringen oder nicht?« Die Stimme des Mannes war glatt und samtig, der spöttische Unterton unverkennbar.
»Ich … ich …« Dass er so lässig mit mir sprach und sich nicht zu fürchten schien, brachte mich aus dem Konzept, und ich wich einen Schritt zurück und musterte ihn durch zusammengekniffene Augen. Er war kein Eingeborener, das stand fest. Und plötzlich wusste ich es. Er war vom Sommervolk. Anders als die Feen aus der Gegend, aus der wir kamen, gehörte er mit Haut und Haar zu diesem Land. Der Duft des Sommers, der ihm entströmte, war wie ein lockend gekrümmter Finger und verführerisch und ärgerlich zugleich.
Und nun wusste ich ganz genau, wen ich vor mir hatte. Meine Mutter hatte sich vorher erkundigt. »Du bist der Sommerprinz. Du heißt Shy, und du gehörst zu Lainules Reich. Du solltest die Beine in die Hand nehmen, solange du noch kannst, Kind des Sommers, denn sonst fresse ich dich.«
Er lachte, und der Klang schien mir zuzuzwinkern. Seine Stimme zog mich an, und wütend senkte ich den Kopf und blickte ihn durch meine Wimpern von unten her an.
»Du hast recht, ich bin Shy vom Sommerreich, Shy, das Bärenkind.«
»Lach nicht – lach mich ja nicht aus! Weißt du überhaupt, in welcher Gefahr du bist?« Ich hätte mich einfach auf ihn stürzen und ihn töten sollen – einen feindlichen Prinzen! –, aber etwas hinderte mich daran.
Shys Lippen verzogen sich erneut zu einem Lächeln. »Oh, ich habe schon von dir gehört, Cherish, Kleinod des Winterhofs. Du bist eine Indigo-Fee – eine Befleckte. Wir wissen viel über euch, schöne Feindin. Wir wissen von eurer Macht und euren Zauberkräften. Sag mir noch einmal, warum ich davonlaufen sollte. Glaubst du wirklich, dass du mich einfach so töten kannst?« Seine Stimme war wie Honig in der kühlen Brise der Nacht.
Ich stand nun dicht vor ihm. Der Duft von Rosen überspülte meine Sinne, und ich spürte, wie ich ihm verfiel. Ich schmeckte Aprikosen, hörte das Plätschern eines kühlen Bachs und hatte plötzlich den Wunsch, mir meine Kleider vom Leib zu reißen, nackt durch Blumenwiesen zu laufen und die Mondstrahlen auf der Haut zu spüren.
Ich versuchte, mich aus der Trance zu lösen, aber etwas hielt mich darin fest: Shy hatte mich in seiner Gewalt, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich fletschte die Zähne, aber seine Nähe, das Gefühl seines Körpers an meinem ließ in mir etwas aufflammen, das ich noch nie gespürt hatte. Ich keuchte und schauderte, als das Feuer mich durchströmte. Die Liebkosung des Sommers weckte in mir Gefühle, von denen ich bisher nur gehört hatte.
»Nein«, rief ich atemlos, doch meine Hände trommelten nicht gegen seine Brust, sondern strichen rastlos darüber. »Nein …« Er presste sich an mich, hart und fordernd, und mein Körper, der bisher nur als Waffe eingesetzt worden war, wurde plötzlich biegsam und geschmeidig. »Nein …« Mein Atem kam stoßweise und unregelmäßig, als er in mein Haar griff und leise lachte.
»Cherish, Kleinod des Winters, was hältst du vom Zepter des Sommers? Gibst du nach? Wehrst du dich? Wirst du kämpfen? Wirst du …?« Er hielt inne, als unsere Blicke sich trafen, und in diesem einen Moment tauschten wir das Wissen einer Lebensspanne aus, und mein Kampfeswille – der Wunsch, ihn zu vernichten – war verblasst wie Kleidung, die man zu lange in der
Weitere Kostenlose Bücher