Winternacht
Grieve mich eng an sich und gab mir einen Kuss. Dann trat er rasch vor und schnitt mir damit den Weg in die Höhle ab.
»Warte, bis ich rufe«, sagte er, warf mir einen letzten Blick zu und war verschwunden.
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich dort stand und ängstlich darauf wartete, seine Stimme zu hören. Kaum wagte ich zu atmen.
Und dann zerriss ein Schrei die Luft. Der Schrei einer Frau! Ich stürzte durch die Öffnung, die anderen hinter mir, und befand mich im innersten Heiligtum. Im weichen grünen Schein, den die Wände abstrahlten, lag ein Tümpel, auf dem silberne Seerosen schwammen. Funkelnde Lichter schwebten in der Luft und hüllten mich mit einem seltsamen Parfum ein. Ich schwankte und sackte auf die Knie, als der schwere Duft mich überwältigte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Kaylin und Rhia ebenfalls zu Boden gegangen waren, doch Chatter stand kerzengerade da und sah sich hellwach um.
Auch ich sah mich um. Dort, auf der anderen Uferseite des Tümpels, lag eine schlanke, nackte Frau. Sie sah ätherisch aus, wunderschön und wild, doch auch sehr, sehr tot. Zu ihrer Linken stand Grieve und blickte geistesabwesend in die Ferne. Seine Lippen waren voller Blut.
Mein Magen zog sich zusammen. Was war hier passiert? Chatter zerrte mich auf die Füße, und mit seiner tatkräftigen Unterstützung kämpfte ich mich durch das magische Kraftfeld auf Grieve zu.
Grieve sah auf, als wir uns näherten, wischte sich mit einer Grimasse den Mund ab und blickte auf seine verschmierten Finger herab. Mit einem angewiderten Laut ließ er sich auf die Knie fallen und wusch sich hektisch im Wasser das Gesicht. »Grieve …«, sagte Chatter zögernd.
Grieve sah aus, als stünde er unter Schock, und starrte aufs Wasser. »Ihr Lied war so verlockend, dass ich nicht widerstehen konnte. Aber als ich näher kam, begann sie sich zu verwandeln.«
Chatter ging neben der Frau in die Hocke, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und sah sich ihre Fingerspitzen an. »Eiserne Nägel.« Er erhob sich. »Eine Schwarze Agnes. Eine Wildling-Fee wie die Schneevettel. Äußerst gefährlich und tödlich, und sie liebt Frischfleisch. Hättest du sie nicht getötet, dann sie dich. Ich nehme an, sie ist eine der Wachen, die Lainule postiert hat. Aber was genau hat sie bewacht?«
Grieve verzog das Gesicht. »Ich habe ihr ein Stück aus der Kehle gerissen. Sie war so wunderschön, ihre Stimme so zauberhaft, und dann hat sie sich zu verwandeln begonnen, und ich habe reflexartig reagiert. Ich hätte sie in Stücke gerissen, doch zum Glück löste sich der Bann, als sie starb, so dass ich von ihr lassen konnte.«
Sein Entsetzen hallte in der Höhle wider, aber wir konnten nichts tun, um es ihm zu erleichtern, also beschloss ich, darüber hinwegzugehen.
Ich sah mich um, doch außer uns war niemand zu sehen. »Ja, was hat sie bewacht? Den Herzstein bestimmt nicht – dann wäre wohl kaum nur sie hier gewesen. Also was sollte sie schützen?« Die Magie hing noch immer zäh in der Luft, aber mit jeder Minute, die sie tot war, ließ es sich besser atmen. Bald konnte ich fast allein stehen.
Chatter nickte bedächtig und tätschelte Grieves Arm. »Schauen wir uns um. Mal sehen, was wir finden.«
Grieve erhob sich langsam wieder. Seine Finger waren nass, aber sauber. Zögernd blickte er zu mir, und ich lächelte und pustete ihm einen Kuss auf der Handfläche zu. Zu nahe kommen wollte ich ihm lieber nicht. Noch lauerte die Vampirfee direkt unter der Oberfläche, und ich wollte sie nicht wieder hervorlocken.
Er schien zu verstehen.
Rhia und Kaylin mühten sich ebenfalls wieder auf die Füße. Die Energie drückte noch immer schwer auf uns herab, doch inzwischen konnten wir alle wieder stehen. Ich sog tief die Luft ein. Der Duft hatte sich schon beträchtlich verflüchtigt. Wir begannen uns umzusehen, aber Grieve blickte in den Tümpel. Er schien dort etwas erkennen zu können.
»Was immer sie beschützt hat, ist hier im Teich.« Ich folgte mit dem Blick seinem ausgestreckten Finger und sah im flachen Wasser etwas schimmern. Es schien aus Messing oder Kupfer zu bestehen. Während ich überlegte, wie wir es herausholen sollten, ohne uns nass zu machen, watete Grieve bereits hinein.
»Nein!«
Er blieb stehen und blickte verdattert zu mir zurück. »Was?«
»Vielleicht steckt etwas im Wasser, das wir nicht sehen.« Ich wurde anscheinend immer paranoider.
Grieve zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Aber anders werden wir
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