Winters Herz: Roman (German Edition)
Spiegel hatte sie gesehen, dass sie dunkle Ringe unter den Augen hatte. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich Sorgen um Ben gemacht; nun machte sie sich Sorgen wegen ihres Kunden, der mit Sicherheit in seinem Büro auf und ab tigerte und auf die noch fehlenden Dateien wartete.
»Komm jetzt, Mom.« Bens Löffel fiel klirrend in die Schale; Milchtröpfchen spritzten hoch. »Hast du mein Zeug?«
Cass sah auf die Uhr und fluchte halblaut. Dann schnappte sie sich seinen Rucksack und das Lunchpaket und die Schlüssel. Ihre Jacken zogen sie an, während sie die Treppe hinunterliefen. Dass sie gestern Abend ausgesperrt gewesen war, erschien ihr bereits unwirklich, wie etwas, das sie geträumt hatte.
Sie stapften durch den Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte. Die Zufahrt war zugeschneit, in der obersten Schichtverharscht. Ben klaubte einige Stücke dieser Kruste auf und zerkleinerte sie mit Karateschlägen.
»Beeil dich, Ben!«, rief sie.
Er sprang auf und rannte die Arme schwenkend voraus. In diesem Moment sah Cass die inzwischen vertraute Gestalt von Bert oben an der Straße stehen. Captain war wie gewöhnlich an der Seite seines Herrn: mit breiter Brust zwischen stämmigen Beinen und rhythmisch ausgestoßenen Atemwolken.
Cass winkte dem Alten zu und hastete weiter, aber sie war nicht so schnell wie Ben, der geradewegs auf den Hund zurannte und schon die Hände ausstreckte, um Captains schwarze Schnauze zu streicheln.
Cass war noch einige Meter entfernt, als sie Captains Kiefer zuschnappen hörte. Sie blinzelte. Für einen Moment stand alles still, sodass sie glaubte, sich das Gesehene nur eingebildet zu haben: den Satz nach vorn, die angespannte kräftige Brust, den vorgestreckten Hals, während grau gewordene Lefzen hochgezogen wurden, um gelbliche alte Zähne freizugeben.
Dann geriet alles in Bewegung: Ben zog mit einem lauten Aufschrei den Arm zurück, umfasste ihn mit der anderen Hand; Bert hielt Captain am Halsband fest; Cass rief den Namen ihres Sohns.
Sie erreichte Ben und griff nach seinem Arm. Der Junge kniff die Augen zusammen und wehrte sich, schlug mit der anderen Hand um sich. Seine gespreizten Finger verfingen sich in ihrem Haar, und Cass spürte, dass ihr Strähnen ausgerissen wurden, aber sie achtete nicht darauf; sie war zu sehr damit beschäftigt, seinen Arm abzutasten und ihn nach Blut, nach den Löchern abzusuchen, die Captains Reißzähne hinterlassen haben mussten.
Aber sie fand nichts außer einer langen Speichelspur an seinem Jackenärmel, die den roten Stoff dunkel gefärbt hatte.
Ben drehte und wand sich, entriss ihr seinen Arm. »Lass mich los! Lass mich los !«
»Tut mir leid«, sagte Bert wieder und wieder, ein monotones Hintergrundgeräusch zu allem. »Tut mir leid.«
»Ben, fehlt dir wirklich nichts?«
»Glaub nich, dass er’n erwischt hat; er hat’s bloß versucht, das ist alles. War nich sein Ernst, stimmt’s, Captain?«
Ben wich einen Schritt zurück, funkelte den Hund an. Das Glitzern in seinen Augen, der kalte Blick von gestern Abend war wieder da.
In Cass verkrampfte sich etwas, und sie fuhr Bert wütend an: »Halten Sie Ihren Köter von meinem Sohn fern! Er ist gefährlich. Er sollte einen Maulkorb tragen.«
Noch während sie in Berts erschrockenes Gesicht blickte, sah sie die beiden, Ben und den Hund, wie sie im Park mit dem alten grünen Tennisball spielten, wie der Hund hinter dem Ball hertrottete, langsam, aber bereitwillig, mit eifrig wedelndem Schwanz.
»Tut mir leid«, sagte der Alte noch einmal und starrte mit blassem Gesicht und völlig ungläubig auf seinen Hund hinab. »Captain«, sagte er. »Captain.«
Cass tastete nach Bens Hand. Er wollte sie ihr entziehen, aber sie bekam sie zu fassen und hielt sie fest. Dann machte sie einen Bogen um Bert und den Hund, behielt ihren Sohn dabei hinter sich.
»Miss«, sagte Bert.
Sie drehte sich um und sah, dass seine Augen heller und wässriger waren als je zuvor. Zum Überlaufen voll. »Tut mir echt leid, dass …«
»Ich bin sicher, dass …«, begann sie, aber dann wusste sie nicht, wie sie fortfahren sollte, und wie hätte sie behaupten können, alles sei in Ordnung? Vielleicht war es das keineswegs. Cass machte den Mund wieder zu und ging davon, führte Ben die Straße entlang.
In einiger Entfernung von Bert und seinem Hund machte siehalt und ging vor Ben in die Hocke. »Alles in Ordnung mit dir, Schatz?«
Ben nickte stumm. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich
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