Winters Herz: Roman (German Edition)
demnächst frisch lackiert wird.«
Lucy biss sich auf die Unterlippe. »Vandalismus, nehme ich an.« Sie beugte sich etwas vor, um das Zeichen genauer zu betrachten.
»Was gibt’s?«
Zuletzt berührte Lucy das Holz doch, indem sie einen Handschuh abstreifte und mit dem Zeigefinger den Querbalken des Kreuzes nachfuhr. »Merkwürdig«, sagte sie. »Wer würde ein Kreuz als Graffito verwenden? Wenn’s ein Kreuz der Verwirrung oder ein auf dem Kopf stehendes Kreuz wäre … aber ein gewöhnliches Kreuz? Das kündet nicht gerade von Revolution.«
Cass nickte. »Ich hab’s für eine willkürliche Aktion gehalten. Oder für … ich weiß nicht, vielleicht für einen Teil des Logos einer Band.« Sie machte eine Pause. »Was ist ein Kreuz der Verwirrung?«
»Eines, das in der Mitte – ungefähr ab hier – zu einem Fragezeichen wird. Angeblich ein Zeichen der Rebellion gegen jegliche Autorität – gleichgültig ob kirchlich oder weltlich.« Sie lächelte Cass zu. »Ich liebe Geschichte, müssen Sie wissen. Wie dem auch sei, das Kreuz der Verwirrung diente in Darnshaw als Symbol, gewissermaßen als Banner, unter dem sich Hexen versammelt haben. Dafür war Darnshaw eine Art Zentrum.«
»Hexerei?«, fragte Cass ungläubig. Davon hatte sie nie etwas gehört, als sie als Kind hier gelebt hatte – aber vielleicht waren das auch keine Geschichten gewesen, die man Kindern erzählte.
»Das stimmt leider. Die Arbeiter aus der Mühle sollen zu deneifrigsten Anhängern gehört haben. Tatsächlich war das Ganze ziemlich hässlich: nicht bloß mit schwarzen Kerzen und Tanz ums Hexenfeuer, sondern mit Blutritualen und Opferungen – sogar von Kindern.«
»Sie haben Kinder geopfert?«
Lucy sah weg. »Ich hab von einem Fall gehört … Aber im Allgemeinen ist’s eher darum gegangen, dass Kinder die Opfer dargebracht haben.« Sie machte eine Pause. »Natürlich haben die Erwachsenen alles geplant. Sie glaubten, der Verlust der Unschuld, wenn ein Kind irgendeine grausige Tat vollbringe … nun, sie dachten, das verleihe ihnen besondere Kräfte. Hässliche Sache. Und natürlich sehr lange her.« Sie wandte sich wieder dem Kreuz zu. »Das war bestimmt nur ein Streich von Kindern oder Jugendlichen.«
»Das ist hier passiert? In dieser Mühle?«
»Du lieber Gott, nein! Tut mir leid, Cass, ich wollte Sie nicht erschrecken. In der Mühle selbst war nichts, zumindest meines Wissens nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Das Ganze hat sich unten am Fluss abgespielt, denke ich, oder oben im Moor. Und in der Kirche.«
»In der Kirche?« Cass machte große Augen.
»Darauf weist vieles hin. Das Christentum hat alle möglichen alten Zeichen und Symbole übernommen. Hält man die Augen offen, kann man in der Kirche noch heidnische Symbole entdecken. Aber sie ist leider auch für schlimmere Dinge benutzt worden.«
Cass erinnerte sich an ihren Vater, der sich in seinem schwarzen Talar zu ihr hinunterbeugte, ihr eine dünne Hostie auf die Zunge legte. Dies ist Liebe. Das Engagement, das er bewiesen hatte, der Glaubenseifer eines Konvertiten … hatte er gewusst, welche Schuld seine Kirche sich hier aufgeladen hatte?
»Das waren bestimmt nur Kids«, sagte Lucy. »Ein Streich von irgendwelchen Jugendlichen. Ohne Sinn und Ziel.«
»Nur Kids«, wiederholte Cass flüsternd. Kinder, die ein Opfer darbringen. Sie spürte einen kalten Schauder, als sie jetzt wieder zu der Mühle aufsah. Viel zu leicht konnte die Fantasie mit einem durchgehen, wenn man hier draußen allein war. Allzu leicht.
»Gelangweilte Teenager.« Lucy warf ihr Haar zurück. »Zum Schlittenfahren sind die heutzutage doch viel zu cool, stimmt’s?«
Cass tippte den Zugangscode ein, ging mit Lucy nach oben, kochte Kaffee und bemühte sich, nicht daran zu denken, dass hinter jeder Ecke Hexen lauern konnten.
Während sie sich unterhielten, fuhr Cass ihren Computer hoch und überlegte sich, was sie dem Kunden mitteilen wollte. Sie kopierte das Anschreiben und die Dateien auf eine CD und erklärte Lucy, was sie gemacht hatte.
»Ich melde mich, sobald er antwortet«, versprach Lucy ihr. Sie lehnte sich zurück, um das alte Deckengewölbe und die hohen Fenster zu bewundern. »Ein prachtvoller Bau. Wie haben Sie diese Wohnung entdeckt, Cass? Woher kamen Sie noch gleich?«
»Von überall und nirgends.« Cass machte eine Pause. »Mein Mann war in der Army. Wir sind viel umgezogen – für Ben war das schwierig.«
»Das kann ich mir
Weitere Kostenlose Bücher