Winters Herz: Roman (German Edition)
vorstellen.«
»Diese Wohnung war als dauerhafte Heimstatt gedacht, als schöne Umgebung, in der er aufwachsen kann.«
»Ja, hier wohnt man sehr hübsch.«
»Das dachte ich auch. Und die Schule ist gut.«
»Sie haben gemeint, dies sei als Heimstatt gedacht gewesen. Sind Sie denn inzwischen anderer Meinung?«
Cass hatte nicht auf ihre Wortwahl geachtet. »Ach, ich weiß nicht. Darnshaw ist nicht mehr so, wie ich es in Erinnerung habe.«
»Dann stammen Sie also aus Darnshaw?«, fragte Lucy überrascht.
»Nicht ursprünglich. Ich hab als Kind eine Weile hier gelebt.«
»Nun, Sie sind nicht gerade freundlich empfangen worden – mit Schnee und allem. Aber es ist ein guter Ort, um Kinder aufzuziehen. Die Umgebung ist wirklich schön.«
Cass sah nochmals aus dem Fenster und merkte, dass Lucy recht hatte. Der verschneite Hügel lag in hellem Sonnenschein; er leuchtete vor dem klaren blauen Himmel, dessen Färbung im Zenit dunkler wurde. Vor ihrem inneren Auge stand plötzlich Pete. In den Händen hielt er die blauen Steine. Sie hatten die Farbe des Himmels, und seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte.
»Cass, alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Sorry. Ich muss geträumt haben«, sagte sie leichthin, doch sie spürte, dass in ihren Augen Tränen brannten. »Sie haben recht: Darnshaw ist genau das, was wir brauchen – was Ben braucht. Es ist nur … Pete fehlt mir so. Er fehlt uns beiden.« Sie machte eine Pause. »Er ist in Afghanistan gefallen.«
»Gott, Cass, das tut mir schrecklich leid.«
»Nein, nein, dafür können Sie nichts. Ich hätte nicht davon anfangen dürfen. Ben und ich, wir müssen beide nach vorn blicken. Ich sollte auch nicht ständig sagen, dass Pete gefallen ist. Er kommt nie wieder, hat man mir gesagt. Doch ich sage gefallen und wundere mich dann, dass Ben nur schwer begreift, dass sein Vater nie mehr heimkehren wird.«
Lucy schwieg.
»Entschuldigen Sie diesen Ausbruch. Er hat mich selbst überrascht.«
Sie saßen noch eine Zeit lang schweigend da. Dann stand Lucy auf, um zu gehen, und Cass fürchtete, sie werde wohl nie wieder zu ihr kommen, aber unten an der Treppe drehte sie sich um und sah Cass an. »Hören Sie«, sagte sie, »wenn Sie sich mal aussprechen wollen, bin ich für Sie da. Es ist nett, eine Frau kennenzulernen, die sich nicht nur über das beste Rezept für Erdbeermarmelade auslässt oder ›Mein-Kind-ist-besser-als-deins‹-Spielchen zum Hobby hat.«
Willst du lieber über tote Ehemänner reden?, dachte Cass, aber sie lächelte.
»Jederzeit«, sagte Lucy noch. »Dann bis zum nächsten Mal. Ich lasse Sie wissen, wie’s mit der E-Mail geklappt hat.«
Sie meint’s ernst, dachte Cass. Sie versucht nicht nur, schnell wegzukommen. »Ich freue mich schon darauf. Und keine Tränen, versprochen.« Sie lachten noch mal, und Cass winkte ihr zum Abschied nach. Der Land Rover bewältigte die schneebedeckte Zufahrt mühelos, und Cass blieb allein vor der verkratzten Haustür zurück.
Sie wollte hineingehen, aber dann blieb sie noch einmal stehen und fuhr mit den Fingern über das zersplitterte Holz. Als sie sich umdrehte und in Richtung Dorf blickte, konnte sie den Kirchturm sehen, der schwarz aus dem Tal aufragte. Heidnische Symbole, hatte Lucy gesagt. Hatte ihr Vater jemals von solchen Dingen gesprochen? Sie konnte sich nicht daran erinnern.
Kurze Zeit später war sie den Hügel hinauf in Richtung Kirche unterwegs. Dort hatte ihr Vater in ihrer Kindheit viele Stunden und Tage verbracht, fast als sei die Kirche sein Zuhause – und Cass und ihre Mutter nur Ablenkungen. Er hatte sich zu ihr hingezogen gefühlt, hatte sie umkreist und war mehr und mehr in ihren Bann geraten, bis er zuletzt der Mann in Schwarz wurde, der eine trockene Hostie auf ihre Zunge legte und dabei von Liebe sprach. Sie schloss kurz die Augen. Dad, dachte sie.
Und dann: Ben. O Gott, Ben.
Wieso hatte sie das nicht schon viel früher erkannt? Ben hatte sich nach seinem Vater gesehnt, und Cass hatte ihm zeigen wollen, wie man nach vorn blickte, hatte ihn davon zu überzeugen versucht, dass Pete nicht heimkehren werde – dass er seinen Vater aufgeben müsse. Und die ganze Zeit hatte sie auf ihre Weiseden eigenen Vater gesucht, war auf seinen Spuren nach Darnshaw zurückgekehrt, wo ihre eigene Familie – während ihrer Kindheit – noch komplett gewesen war.
Sie schüttelte den Kopf, zwang sich dazu, die Vorteile des Ganzen zu bedenken: die gute Schule,
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