Winters Herz: Roman (German Edition)
das gesunde Landleben, die Tatsache, dass Ben sich bereits eingewöhnte. Er würde hier glücklich werden; sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Die Kirche schien mit jedem Schritt größer zu werden, und das schwarze Steingemäuer wirkte, wie es vor ihr in den Himmel aufragte, dunkler als je zuvor. Die frostiger werdende Luft kündigte weitere Schneefälle an. Cass legte eine Hand auf die Klinke und stellte überrascht fest, dass die Kirchentür nicht abgeschlossen war. Sie schwang nach innen, bis sie von den Steinplatten gebremst wurde, und als Cass den Blick zu Boden senkte, konnte sie dort tiefe Schleifspuren erkennen, welche die Tür in all den Jahren im Stein hinterlassen hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob es diese Spuren schon in ihrer Kindheit gegeben hatte, und merkte, dass sie’s nicht konnte. Sie trat ein und hatte das Gefühl, die Vergangenheit, den Geruch nach altem Gemäuer und kalter Erde, riechen zu können. Aber sie verband damit keinen Geschmack. Dies ist Liebe .
Anfangs schien das Kircheninnere farblos zu sein. Cass erblickte dunkle Bankreihen und einen dunklen Altar, und die graue Luft dazwischen schien dick von Staub zu sein. Aber dann sah sie auf und staunte über die fast blendende Farbenpracht der Fenster in Rot, Gelb und leuchtendem Blau.
Cass ging durchs Mittelschiff nach vorn. Während sie eine Hand über die Rückenlehnen der Bänke gleiten ließ, erinnerte sie sich daran, wie unbequem hart man darauf gesessen hatte, wie sie im Sitzen die Beine geschlenkert und dabei ihre Füße in schwarzen Lacksandalen betrachtet hatte. Weiße Socken. Ein reich mit Rüschen besetztes Kleid. Sie hatte zu ihrem Vater aufgesehen, der dort vorn vor ihnen allen gestanden hatte, ernst und wichtig. Und sie hatte nicht geahnt, dass ihr dieser Bau den Vater nehmen würde, dass dies nun seine Familie war, diese dunkle Kirche mit ihrem trockenen Modergeruch. Dass er Gott gehörte.
Sie hatte nicht verstanden, warum Gott ihn ihnen wegnehmen wollte – er hätte sie nicht zurücklassen müssen; er hätte sie doch bestimmt mitnehmen können? Cass wusste noch, wie ihre Mutter ihn angeschrien hatte, während sie in ihrem Versteck unter der Treppe gelauscht hatte. Aber sobald ihr Vater etwas beschlossen hatte, ließ er sich durch nichts mehr umstimmen, und so waren es zuletzt Cass und ihre Mutter gewesen, die das Haus hatten verlassen müssen.
Diesen Kampf hätte ich niemals gewinnen können , hatte ihre Mutter gesagt. Damals hatte Cass nicht verstanden, was sie damit meinte, aber heute, hier in der Kirche, bekam sie so etwas wie eine Ahnung davon.
Cass war eifersüchtig gewesen, und dieses Gefühl kehrte jetzt zurück, schmeckte gallebitter auf ihrer Zunge. Sie war eifersüchtig auf den Gott, der ihr den Vater weggenommen hatte. Und wurde er nicht ebenfalls so genannt? Ein eifersüchtiger Gott. Sie hatte sich ausgemalt, wie Gott und sie in getrennten Ecken eines Raums saßen und wegen dieses Mannes aufeinander eifersüchtig waren.
Mir hat er zuerst gehört, dachte sie und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schienen die Farben sie zu verspotten.
In dieser ganzen Zeit hatte sie Darnshaw als Ort für eine Familie, als ihren neuen Heimatort gesehen und dabei vergessen, dass sie hier ihre eigene Familie – ihren Vater – verloren hatte.
Cass sank auf eine Bank, sah durch Lichtschichten nach oben. Das hohe Kreuzgewölbe des Mittelschiffs war mit geschnitzten Figuren besetzt. Durch ein Büschel Zweige blickte ein Gesicht auf sie herab: ein grüner Mann. Ein heidnisches Symbol, genauwie Lucy gesagt hatte. Die Gestalt streckte spöttisch die Zunge heraus.
Die nächste Figur glich einer Meerjungfrau, deren langer Schwanz um einen jungen Mann gewickelt war, den sie gerettet, vielleicht auch geraubt hatte. Als Nächstes kam ein Reptil mit weit aus der Schnauze hängender Zunge. Cass lehnte sich auf der Bank zurück. Es folgte ein kahlköpfiger Mann, der seine Zähne in eine Schlange geschlagen hatte, die sich um seinen Kopf wand, dann ein Hirsch mit Menschenarmen und ein Schaf, das einen Wolf riss.
Es gibt Zeichen. Sogar in der Kirche.
Das war nicht einmal ungewöhnlich. Lucy hatte recht: Viele Kirchen waren an heiligen Stätten älterer Religionen errichtet worden, hatten sie gänzlich vereinnahmt oder ihre Zeichen und Symbole übernommen und daraus etwas Neues geschaffen. In manchen Kirchen waren sogar prähistorische Dolmen in die Wände eingelassen oder in Grabsteine
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