Winters Herz: Roman (German Edition)
der mit hochgezogenen Augenbrauen von einem zum anderen sah. Dann grinste er den Lehrer an und sagte: »Ich geh zu Mrs. Spencer.«
Cass und Mr. Remick brachen in Gelächter aus.
Cass dachte beim Einschlafen an Mr. Remick, an die lässige Art, wie er in ihren Haushalt geschlüpft war, und fragte sich, ob sie sich eines Tages vielleicht wünschen würde, er bliebe ganz. Das war ein neuartiger Gedanke. Seit Pete verschollen war, hatte Cass über viele Dinge nachgedacht: wo sie leben würden; wie Ben aufwachsen sollte, ohne seinen Vater jemals wiederzusehen; wie sie die Erinnerung an Pete wachhalten sollte, damit sichergestellt war, dass sie ihn nie vergaßen. Sie war nie auf die Idee gekommen, dass sie eines Tages darüber nachdenken könnte, wie es für sie weitergehen sollte. Das ließ ihr Herz rascher schlagen. Das Leben hatte sich bei ihr eingeschlichen, bevor sie’s überhaupt bemerkte, und machte alle Farben bunter.
Sie erinnerte sich daran, wie Pete die blauen Steine dargeboten, sie zu Boden hatte fallen lassen. Sie schloss die Augen.
Als sie dann träumte, kam jedoch nicht Pete zu ihr, sondern ihr Vater.
Sie standen in der Kirche. Cass blickte an sich herab und sah das weiße Rüschenkleid. Es war mit etwas Dunklem besudelt, aber das Licht war so trüb, dass sie nicht sehen konnte, was es war. Sie dachte an Blut, aber nein, draußen regnete es – sie konnte Regentropfen auf dem Dach, an Fenstern und Wänden hören, als begehrten sie Einlass. Der Boden dort draußen war schlammig, und sie war, unbeholfen wie immer, hingefallen und hatte ihr Kleid ruiniert.
Das hohe Fenster hinter ihrem Vater begann plötzlich zu leuchten. Nicht farbig, sondern in grellem Weiß. Ihr Vater schien das nicht zu bemerken. Er streckte die Hand nach ihremKleid aus, strich es glatt, wobei das dunkle Zeug an seinen Fingerspitzen haften blieb. Er wischte es mit angewidertem Gesichtsausdruck ab.
Der Mann, Daddy!, wollte Cass sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Ihr Mund stand offen. Hinter ihrem Vater stand eine dunkle Gestalt. Der Mann trat aus dem Licht und schlang einen Arm um die Schultern ihres Vaters, der das aber nicht zu spüren schien.
Die dunkle Gestalt nahm ihr ihren Vater weg. Cass konnte das Gesicht des anderen Mannes nicht sehen, aber sie wusste, was er tat. Sie wusste auch, dass seine Gestalt falsch war, irgendwie zu dünn. Obwohl sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen war, wusste sie, dass er lächelte. Auch sein Lächeln war falsch, eine verzerrte, kranke Grimasse.
Cass setzte sich im Bett auf, rang nach Atem und glaubte, ein geflüstertes Echo zu hören.
Gloria. Weil du dem Herrn Ruhm bringen wirst. Hosianna in der Höh’.
Sie schlug die Bettdecke zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. Einen Augenblick lang glaubte sie, ein leises Kratzen in der Wand zu hören, dann verstummte es. Cass stand auf, spürte die Nachtluft kühl auf ihrer Haut und verließ das Zimmer, um nach ihrem Sohn zu sehen.
Sie war erst in der Diele, als sie Ben laut stöhnen hörte – ein langes gedehntes Ächzen, das ihr das Herz einschnürte. Sie öffnete die Tür und betrat sein Zimmer.
Ben lag auf der Seite, wirkte völlig entspannt, ein Leitbild friedlichen Schlafs. Er hatte eine Hand unters Kinn gelegt.
Sie beugte sich über ihn und wartete ab, ob das Stöhnen sich wiederholen würde. Aber das tat es nicht. Seine Atmung war gleichmäßig und tief, und Cass lauschte ihr eine ganze Weile. Sie fragte sich, was er wohl träumte. Vielleicht war er mit dem Gedanken an Mr. Remick eingeschlafen.
Als sie sich aufrichtete und das Zimmer verlassen wollte, ließ Ben erneut etwas hören. Diesmal war es kein Stöhnen, sondern ein einzelnes, ganz deutlich gesprochenes Wort: Daddy . Cass wartete noch ein paar Minuten, aber er sagte nichts mehr.
Kapitel 15
Der erste Erwachsene, den Cass außerhalb der Schule sah, war Mr. Remick. Er winkte ihr lächelnd zu, und Ben lief sofort zu ihm. Was er auch geträumt haben mochte, schien bei Tagesanbruch vergessen zu sein, aber Cass war es im Gedächtnis geblieben. Sie glaubte noch immer zu hören, wie er dieses eine Wort sagte: Daddy .
»Ich würde zu gern wissen, was Sie jetzt gerade denken.« Mr. Remick stand vor ihr, eine weiße Atemwolke verbarg sein Gesicht. Es war noch kälter geworden; der Winter hatte das Land fester denn je im Griff.
»Ich hab mich nach Lucy umgesehen«, antwortete sie.
»Die haben sie verpasst, fürchte ich.« War der Glanz in seinen Augen ein wenig
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