Winters Herz: Roman (German Edition)
müssen, um sich zum Abendessen umzuziehen, bevor sie ein weiteres Mal ins Dorf ging. Aber sie musste mit Lucy sprechen.
Wenigstens ersparte das Nachdenken über Lucy es ihr, sich Sorgen wegen des Abendessens mit Mr. Remick zu machen. Allein bei dem Gedanken daran verkrampften sich ihre Magennerven; das letzte Mal, dass etwas in dieser Art passiert war, lag schon lange zurück.
Auch Pete hatte sie anfangs eingeschüchtert, aber er war so voller Farbe, Lachen, Leben gewesen – lauter Dinge, die sie angezogen hatten. Pete war durch die Welt getrieben, war von Ort zu Ort gezogen, ohne irgendwo Wurzeln zu schlagen; das war etwas gewesen, das ihn nie bekümmert hatte. Es hatte ihn einfach nicht berührt. Und wenn Cass mit ihm zusammen gewesen war, hatte es auch sie nicht berührt.
Als sie aufsah, stellte sie überrascht fest, dass sie schon gegenüber der Post angelangt war. Irene schloss gerade ab. Als sie Cass sah, deutete sie auf den Briefkasten und schüttelte bedauernd den Kopf.
Cass hatte nicht damit gerechnet, dass die Straßen heute geräumt werden würden. Der Winter schien erst richtig einzusetzen. Sie sah zu den Hügeln um Darnshaw und dachte an die Steine, die Wache standen, um Hexen abzuhalten.
Wenig später hörte sie in der prickelnd kalten Luft ferne Stimmen – offenbar waren die Kinder im Freien. Eine schrill kreischende Stimme übertönte alle anderen. Das klang nicht wie freudiges Kreischen. Dann erklang eine befehlende tiefere Männerstimme. Cass hastete bis zu der Ecke, von der aus sie den Schulhof überblicken konnte. Die Kinder standen zusammengedrängt, bildeten eine Masse aus bunten Jacken. Zwischen ihnen lag eine kleine Gestalt auf dem Boden.
Cass lief die Zufahrt hinunter, rutschte auf dem Eis aus, gewann das Gleichgewicht zurück und hastete weiter. Mitten im Gedränge sah sie eine rote Jacke mit einem blonden Haarschopf darüber. Ben . Also lag nicht er dort. Sie atmete tief durch. Das auf dem Boden liegende Kind war ein kleines Mädchen, dessen langes schwarzes Haar feucht an seinem Gesicht klebte. Als Cass näher herankam, sah sie eine blutige Kratzspur auf der Wange der Kleinen.
Dann war ein lauter Aufschrei zu hören, und Cass sah, wie Lucy sich durch die Kinder drängte und einen Jungen zur Seite stieß, um zu dem am Boden liegenden Mädchen zu gelangen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass die Kleine Jessica war.
Als Lucy ihre Tochter erreichte, hatte Jessica zu weinen begonnen, und Cass spürte eine Woge der Erleichterung. Das Weinen eines verletzten Kindes bereitete einer Mutter immer weniger Sorgen, als wenn Stille herrschte.
Plötzlich erschien Mr. Remick inmitten der Gruppe und strahlte nichts als Ruhe aus. Die Kinder drängelten weniger, und der Lehrer sagte halblaut etwas, das Cass nicht verstand. Einige der Kinder traten zurück, sodass sie jetzt Myra sehen konnte, die ein Kind zum Parkplatz führte. Cass wollte einen Blick mit ihr wechseln, aber die Frau sah bewusst weg.
Bald stand nur noch ein Kind bei Mr. Remick, Lucy und Jessica. Cass fühlte ihr Herz sinken. Es war Ben. Während sie zusah, ging Sally zu ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Dann sah Ben seine Mutter kommen und wich ihrem Blick ebenfalls aus, sah angestrengt zu Boden.
Lucy zog Jessica sitzend hoch und hielt die Schluchzende umarmt. Mr. Remick beugte sich zu ihr hinunter, strich Jessica die Haare aus der Stirn und begutachtete ihr Gesicht. Er richtete sich auf, sah Cass dort stehen. »Nicht weiter schlimm«, sagte er. »Nur ein Kratzer.« Das sagte er zu Cass, die nicht gleich wusste, weshalb er sie ansprach. Dann wurde ihr alles klar.
Ben starrte geradeaus. Sein Gesicht war rot angelaufen, aber aus seinem Blick sprach stählerne Unbeugsamkeit.
Lucy richtete sich auf und starrte Ben aus zusammengekniffenen Augen an. Dann sah sie zu Cass hinüber.
So fand Cass sich plötzlich im Mittelpunkt eines Kreises wieder, sah alle Blicke auf sich gerichtet und hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
Mr. Remick räusperte sich. »Also gut«, sagte er. Seine Stimme war ruhig, die Stimme eines Mannes, der Gehorsam erwartet. »Ich danke euch. Alles ist wieder unter Kontrolle.«
Statt zurückzuweichen kamen einige Jungen näher. Sie musterten Cass mit Augen, die feindselig zu glitzern schienen. Damon war unter ihnen.
Mr. Remick bückte sich, half Jessica aufzustehen. Er sprach halblaut mit ihrer Mutter, und Lucy nahm ihren Arm, wischte ihr die Tränen ab und führte sie in Richtung Parkplatz
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