Winters Herz: Roman (German Edition)
Nachrichten, die für Cass trotzdem neu waren, da sie nicht einmal die TV -News gesehen hatte. Offenbar schottete sie sich ab, seit sie – wie hatte Irene gleich wieder gesagt – in die tiefste Provinz geraten war.
Sie schüttelte die Zeitungen aus. Ein paar Prospekte fielen heraus – für Haushaltswaren, Billigtextilien und eine Teppichreinigung. Aber kein Brief.
Cass kniete sich hin und brachte ihr Gesicht in Bodennähe. Hinter dem Türspalt konnte sie den Rand eines Briefumschlags als dünne Linie über dem Teppichboden sehen. Sie schob einen Finger unter der Tür hindurch, versuchte den Umschlag zu erreichen, schürfte sich die Haut an dem rohen Holz auf. Beim zweiten Versuch berührte sie die Kante des Kuverts, das sich leicht bewegte. Schließlich gelang es ihr, den weißen Umschlag herauszuangeln. Er war unter der Anschrift 10 Foxdene Mill an sie adressiert.
Die Handschrift erkannte Cass sofort. Sie verzog das Gesicht, faltete den Umschlag zusammen und stopfte ihn tief in ihre Hüfttasche.
In der Wohnung spielte Ben sein Spiel, erschoss Soldaten in der sepiabraunen Wüste, in der rote Blüten aufgingen und vergingen. Er sah sich nicht mal nach ihr um.
Cass ging in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Der Umschlag aus starkem weißen Papier trug ein eingeprägtes Wappen. Sie fuhr mit der Fingerspitze darüber.
Die Mitteilung war kurz, aber sie brauchte trotzdem lange, um sie zu lesen. Die Worte verschwammen vor ihren Augen.
Mein liebes Kind,
ich weiß, dass Du das vielleicht nicht glauben wollen wirst, aber ich liebe Dich. Ich habe gehört, was Peter zugestoßen ist. Das tut mir sehr leid. Falls ich Dir irgendwie helfen kann, weißt Du hoffentlich, dass Du mich immer anrufen kannst.
Ich habe gehört, dass du nach Darnshaw zurückgehst. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Ich werde für Euch beide beten. Ich denke stets an Euch – als Geistlicher und dein Vater. Schreibe bald wieder.
Cass knüllte den Brief zusammen und drückte ihn an ihr Gesicht. Als Geistlicher und dein Vater . Das war das Problem, nicht wahr? Er konnte niemals wirklich beides sein. Und warum jetzt? Er tauchte immer nur auf, wenn sich in ihrem Leben etwas änderte, als wolle er an allen ihren Entscheidungen beteiligt sein. Sie erinnerte sich an den Brief, den er ihr geschrieben hatte, als sie sich mit Pete verlobt hatte. Sie hatte ihn lächelnd geöffnet, weil sie Glückwünsche oder höchstens eine kaum verbrämte Ermahnung erwartete, sich kirchlich trauen zu lassen. Jedenfalls nicht das, was er damals zu Papier gebracht hatte:
Er ist nicht gut für dich. Das spüre ich. Er wird Dir und den Deinen Unglück bringen, das dich bis ans Ende Deiner Tage verfolgen wird. Du tätest gut daran, Dich dem Herrn zuzuwenden. Er liebt Dich.
Auch jenen Brief hatte sie zusammengeknüllt und in kleine Fetzen gerissen. Seither hatte sie keinen Brief ihres Vaters mehr beantwortet.
Er ist nicht gut für dich.
Nun, in diesem Punkt hatte ihr Vater recht gehabt, nicht wahr? Ihre jetzige Situation war Beweis genug: in einem leeren Gebäude allein mit einem Sohn, der sie nicht ansehen wollte. Selbst ihr bisher einziger Kunde glaubte, sie habe den Verstand verloren. Hätte ihr Vater sich gefreut, wenn er das erfahren hätte? Cass spürte, wie dieser Gedanke sich in sie einschlich, und wusste, dass er falsch war, dass sie ihm nicht erliegen durfte. Sie war zu alt für Selbstmitleid, trug zu viel Verantwortung. Trotzdem stiegen ihr Tränen in die Augen, Pete . O Gott, wenn sie ihn doch hätte zurückhaben dürfen, wenigstens für kurze Zeit.
Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Sie wusste erst nicht, was das war, aber dann kam es wieder, und sie erkannte, dass jemand an die Wohnungstür klopfte. Cass fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, die hoffentlich nicht rot waren. Als sie draußen Mr. Remick stehen sah, verkrampfte sich ihr Magen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.
»Tut mir leid, dass Ben heute nicht in der Schule war, aber …«, begann sie.
Er hob eine Hand. »Schon gut«, sagte er. »Ich pflege keine Hausbesuche bei Schülern zu machen, die nicht zum Unterricht erscheinen. Täte ich das, wäre ich im Augenblick ganztägig beschäftigt. Sie hatten bestimmt einen guten Grund. Er ist doch hoffentlich nicht krank?«
Cass schüttelte den Kopf und sah weg.
»Dies ist ein rein gesellschaftlicher Besuch. He, Tiger«, sagte Mr. Remick. Cass spürte Ben neben sich. Seine Miene hellte sich auf,
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