Winters Herz: Roman (German Edition)
verblasst? »Sie hat Jess heute früher als sonst abgesetzt.«
Cass runzelte die Stirn. Ihr drängte sich die Vermutung auf, dass das mit der merkwürdigen E-Mail zusammenhing, die Lucy von ihrem Kunden erhalten hatte. Vielleicht hatte sie Lucy sogar dazu veranlasst, sich die Dateien anzusehen, die sie ihm gemailt hatte. Bei dieser Vorstellung wand Cass sich innerlich. Sie ließ die Linke auf Bens Kopf ruhen – zu ihrem Trost ebenso wie zu seinem. Dann nahm sie die Hand weg. Hatte etwa Ben ihre Arbeit aus Boshaftigkeit verändert? Das hätte sie ihm eigentlich nicht zugetraut. Aber wenn sie an diese Zeichnung dachte …
»Ben, willst du nicht schon reingehen? Ich muss rasch etwas mit Mr. Remick besprechen.«
»Mo- om.«
»Geh nur. Bis später!« Cass beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu küssen, aber er entzog sich ihr.
»Sie werden so schnell erwachsen, nicht wahr?«, sagte Mr. Remick. »Gibt’s irgendwas, bei dem ich Ihnen helfen kann?«
»Nein. Ich meine, nicht speziell. Ich wollte Sie nur etwas wegen Ben fragen. Als Sie mir neulich diese Zeichnung gezeigt haben, war ich etwas besorgt. Ich frage mich, ob Ihnen sonst noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist.«
»Überhaupt nichts. Er ist ein prächtiger Kerl, Cass. Kein Grund zur Sorge.«
»Hat er noch mal etwas Ähnliches gezeichnet?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich kann Sally noch mal fragen, aber ich bin sicher, dass sie’s erwähnt hätte. Ah, wenn man vom Teufel spricht …« Er winkte, und eine schrille Stimme antwortete.
»Cass, gut, dass ich Sie hier treffe.« Sally schoss auf sie zu. Damon hatte sich in ihrem Kielwasser treiben lassen, aber jetzt drehte er ab und verschwand im Schulgebäude. »Ich wollte fragen, ob Ben heute Abend bei uns essen darf. Darüber würden wir uns sehr freuen, nicht wahr, Damon? Wo ist dieser Junge bloß wieder? Also ehrlich . Na ja, jedenfalls möchte er Ben weitere Spiele zeigen und vielleicht ein paar andere Jungs einladen, damit Ben neue Freundschaften schließen kann. In Wirklichkeit war das mein Vorschlag, aber …«
Cass öffnete den Mund, um zu antworten, als sie Mr. Remicks Augen amüsiert glitzernd auf sich gerichtet sah. Sie holte tief Luft und traf ihren Entschluss. »Das ist sehr nett von Ihnen, Sally. Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie ihm helfen, sich einzugewöhnen – ihm gefällt es hier bereits sehr gut. Deshalb danke für die Einladung. Aber dieses Mal komme ich selbst bei Ihnen vorbei und hole ihn ab.«
Sally holte tief Luft. »Ohhh, wundervoll! Das freut mich echt. Vielen, vielen Dank! In nächster Zeit müssen wir mal alle zusammenkommen, nicht wahr? Sie und ich und die Jungs.«
»Das würde mich freuen, wirklich; es ist sehr nett von Ihnen,uns so freundlich aufzunehmen. Ben und Damon kommen wirklich gut miteinander aus, stimmt’s?«
»Natürlich, natürlich. Nun, ich muss …«
»Noch etwas«, warf Mr. Remick ein. »Wir wollten Sie nach Bens Zeichnungen fragen. Hat er irgendwas zu Papier gebracht, das Anlass zur Beunruhigung geben könnte, Sally?«
»Zum Beispiel?«
»Irgendwas allzu Gruseliges oder vielleicht Depressives. Irgendwas, mit dem Sie nicht ganz einverstanden waren?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Er ist ein lieber kleiner Kerl. Er versteht sich gut mit den anderen.«
»Nun, das hört man gern«, sagte er.
Sally lächelte und hastete zum Eingang weiter, während Mr. Remick sich wieder Cass zuwandte. »Noch besser finde ich«, sagte er, »dass Sie heute zum Abendessen frei sind.«
Cass antwortete nicht gleich. Sie glaubte, ein Echo von Bens Stöhnen im Traum zu hören.
»Sie bekommen doch hoffentlich keine kalten Füße, Ms. Cassidy?«
Sie holte tief Luft. »Nein, Sie haben recht. Wie’s scheint, hab ich heute Abend frei.«
Er beugte sich leicht nach vorn, als wolle er sie auf die Wange küssen, aber dann richtete er sich im letzten Augenblick wieder auf und winkte einer Gruppe von Müttern zu, die mit ihren Kindern im Schlepptau von der Straße aufs Schulgelände herunterkamen.
Als Cass ging, drängten sich ihr zwei Erkenntnisse auf: erstens, dass sie in den letzten Minuten nicht mehr an die Dateien ihres Kunden gedacht hatte. Und zweitens, dass sie Lucy nicht mehr vor dem Wochenende sehen würde, wenn sie Ben heute Nachmittag nicht von der Schule abholte.
Um 15 Uhr verließ Cass wieder die Mühle. Der Gedanke, erneut zur Schule gehen zu müssen, irritierte sie bereits, zumal sie zwischendurch würde heimgehen
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