Winters Herz: Roman (German Edition)
verflüchtigten sich. Sie sah die Handschrift ihres Mannes, die ihr so vertraut, so lieb war. Als sie einen Finger über das Papier gleiten ließ, erwartete sie fast, die Wörter spüren zu können, als hätten sie den Charakter einer eingravierten Schrift angenommen.
Wir haben uns abgewechselt, stand dort. Cass schloss fest die Augen.
Wir haben uns abgewechselt, und die Einheimischen haben gelacht. Man sollte glauben, ein Nordlicht wie ich müsste gut feilschen können, aber das ist überraschend schwierig. Sie haben uns aus einer Meile Entfernung kommen gesehen. Wir haben uns angestellt, eine ordentliche Schlange gebildet, damit sie uns ausnehmen konnten.
Das hätte Dir gefallen, Cass. Sie bedrängen einen von allen Seiten und schreien durcheinander und schwenken ihre Ware vor dem Gesicht des Kunden. Das ist leicht beängstigend, aber so voller Leben, nicht wie in unseren Geschäften, sondern jeder drängt heran, und alle schwatzen gleichzeitig. Sie hatten Lederschuhe und Decken und Stickwaren, und ich habe versucht, etwas zu finden, das ich mir an Dir vorstellen konnte, aber das war nicht möglich.
Dann habe ich die Lapislazuli gesehen. Sie haben wie kleine Steinbrocken ausgesehen, die sie natürlich sind, aber wenn man weiß, wie man sie behandeln muss, verwandeln sie sich in leuchtende Schmucksteine. Männer haben um diese blauen Steine gekämpft und sind für sie gestorben. Eine Zeit lang war dieses Blau die teuerste Farbe der Welt. Ich habe einige für Dich gekauft, Cass. Vielleicht bekommen wir eines Tages ihr Geheimnis heraus.
Lapislazuli. Blaue Steine, die aus seinen Händen fielen. Cass hatte geglaubt, ihr Mann wolle ihr etwas sagen – und dabei hatte ihr Traum seinen Ursprung nur in diesem alten Brief, den sie weggelegt und ganz vergessen hatte.
Kratz, kratz.
Cass sank wieder aufs Bett zurück, starrte die Zimmerdecke an. Sie musste fort von hier. Darnshaw war ein schwarz-weißer Ort. Pete hatte recht: Sie brauchte Farbe um sich herum, Leben.
Sie tastete nach Bens Zeichnung und hielt sie vor ihrem Gesicht hoch. Die blauen Steine in ihrem Traum waren aus dem Leben gekommen. Woher war diese Zeichnung gekommen? Cass starrte sie an. Der Soldat im Wüstentarnanzug, sein Arm ausgestreckt. Die Frau, ihr Gesicht zu einem Schrei verzerrt, jetzt schweigend, vielleicht für immer. Ihr Kleid in leuchtend klarem Blau.
Kapitel 19
Cass fuhr hoch, als ihr Wecker losschrillte, beugte sich aus dem Bett und tastete nach ihm. Sie berührte die Briefschachtel, dann den glatten Kunststoff des Weckers. Sie stellte ihn ab, ließ sich zurücksinken und war versucht, sich einfach nur treiben zu lassen. Dann stemmte sie sich seufzend hoch. Sie musste früh in der Schule sein, um mit Lucy zu reden. Fünf Minuten, die sie sich jetzt gönnte, konnten weitere acht Stunden Wartezeit bedeuten.
Cass machte sich auf den Weg ins Bad und rief unterwegs nach Ben. Sie sah sein T-Shirt aus dem Wäschekorb hängen und stopfte es wieder ganz hinein.
»Ben.« Sie zog sich hastig an, erinnerte sich daran, dass sie Mr. Remick sehen würde, und nahm eine frisch gewaschene Leinenjacke aus dem Schrank.
»Ben, komm jetzt!«, rief sie, aber Ben war bereits da: Er stand für die Schule angezogen und mit seinem Rucksack über der Schulter an der Tür.
»Da bist du ja«, sagte Cass lächelnd. Bens Wangen hatten wieder Farbe, und sie fragte sich, ob die linke, die ihr Schlag getroffen hatte, etwas kräftiger gerötet war. Sie trat auf ihren Sohn zu, legte ihm eine Hand auf die Wange und küsste ihn. »Komm, Schatz, ich mache uns Frühstück.«
Das Frühstück bestand aus einigen Kräckern, die Ben übersehen hatte: etwas weich, aber noch gut. Cass bestrich sie dünn mit Butter. »Die können wir unterwegs essen. Komm, wir müssen los.«
Sie traten frische Spuren in den Neuschnee. Er war höher als je zuvor, reichte fast bis zum Oberrand ihrer Stiefel. Die Zufahrt hinauf kamen sie nur langsam voran, aber als sie die Straße erreichten, ging es besser. Die Luft in Cass’ Nase war frisch und klar, völlig geruchlos.
Irgendjemand hatte die Schule vor ihnen erreicht und auf dem abfallenden Weg eine Spur hinterlassen. Der Parkplatz war eine glatte Schneefläche ganz ohne Reifenabdrücke, die in der Sonne glitzerte.
»Viel Spaß in der Schule, Schatz.« Cass gab Ben einen Kuss, weil sie im Augenblick nicht fand, dass er für solche Dinge zu alt war, und drückte seine Schulter, bevor er die Zufahrt hinablief. Dann ertönte ein schriller
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