Winters Herz: Roman (German Edition)
sich entfernten. Dann fiel dieTür ins Schloss. Sie lehnte an der Fensterbank und betrachtete die Fingerabdrücke an der Scheibe: so viele kleine Hände. Die Zufahrt von der Straße herunter blieb hartnäckig leer. Lucy würde heute nicht kommen. Aber was war mit der CD … Lucy hatte ihre Dateien doch hoffentlich gemailt?
Das würde Cass heute wohl nicht mehr erfahren. Im Raum nebenan wurden Stühle gerückt. Sallys laute Stimme war zu hören, und Mr. Remick lachte. Cass empfand Eifersucht wie einen Stich ins Herz. Sally war eine ledige Frau, die den ganzen Tag mit Theo verbrachte. Sie erinnerte sich daran, wie die anderen Mütter darüber Witze gemacht hatten.
Aber ich werde die Nacht mit Theo Remick verbringen.
Cass schluckte trocken. Hatte sie das wirklich gedacht? Sie schüttelte den Kopf. Er hatte sie zum Abendessen eingeladen, das war alles … nur zum Abendessen, und sie würden sich unterhalten, sich etwas besser kennenlernen, und dann würde Cass gehen, um ihren Sohn abzuholen.
Sie dachte an Pete, seine Briefe unter ihrem Bett.
Er hat sie gesext.
Sie verdrängte diese Erinnerung und zwang sich dazu, an ihren Kunden zu denken. Lucy war inzwischen eine halbe Stunde überfällig; sie würde heute offenbar nicht mehr kommen. Und wenn Jessica nicht in der Schule war, würde Lucy auch nicht kommen, um sie abzuholen. Also würde Cass erst morgen erfahren, was aus ihren Dateien geworden war.
Aber es gab noch etwas, das sie tun konnte. Bloß für den Fall, dass Lucy doch sauer auf sie war.
Kapitel 20
Die Tür zur Poststelle war verriegelt, an der Scheibe hing ein Schild: GESCHLOSSEN . Cass sah zu den Fenstern im ersten Stock auf. Ob irgendwo dort oben Licht brannte, war schwer zu erkennen. Die Mietwohnung , hatte Bert gesagt, als wüsste Cass bereits, wo sie lag.
Rechts neben dem Eingang befand sich eine schmale schwarze Haustür. Obwohl die Farbe schon abblätterte, wirkte sie fast unbenutzt. Die Mietwohnung . Cass hielt Ausschau nach Namensschildern, aber hier gab es keine. Es gab auch keine Klingel.
Sie klopfte kräftig an und wartete. Fast augenblicklich ertönte irgendwo ein raues Kläffen, dann polterten schwere Schritte – stampf-stampf, stampf-stampf – die Treppe herunter.
Berts Gesicht war gerötet, als er die Tür öffnete. »Komme schon«, sagte er. »Ah, Sie sind’s, Schätzchen.«
Er ließ Cass in den engen Vorraum eintreten. Gleich hinter ihm begann eine steile Treppe mit einem in der Mitte stark abgetretenen Kokosläufer. Bert blieb an die Wand gedrückt stehen, damit Cass sich an ihm vorbeiquetschen konnte. Oben an der Treppe beleuchtete eine einzelne Wandlampe ringförmig die vergilbte Tapete.
»Weiter, nur weiter«, sagte Bert, indem er die Haustür schloss.
Cass stieg die Treppe hinauf und blieb auf dem oberen Absatz stehen. Aus einem ovalen Rahmen blickte das gezeichnete Porträt einer Frau auf sie herab. Die Dame trug ein langes Kleid und lächelte zurückhaltend, fast schüchtern. Berts Frau? Cass hatte ihn sich immer als Einzelgänger vorgestellt: als alten Mann mit seinem Hund … und nun streckte Captain seine grau melierte Schnauze aus der Wohnungstür und betrachtete sie.
»Hallo, Captain«, sagte Cass. Sie blieb vorerst stehen. »Ich bin’s nur.«
»Er is’ harmlos.« Bert sprach so dicht hinter ihr, dass sie zusammenzuckte. »Bloß schon alt.«
Der Hund zog sich zurück, als Bert Cass mit einer Handbewegung zum Eintreten aufforderte, und ließ sich auf einer in der Ecke liegenden alten Jacke nieder. Die Einrichtung bestand aus zwei grünen Sesseln mit weißen Sesselschonern, dunklen Nussbaummöbeln und massenhaft Fotos von Kindern verschiedenen Alters sowie der Frau, deren Porträt draußen im Flur hing.
»Enid«, sagte Bert, als er sah, wofür sie sich interessierte. »Sie is’ nun schon lange tot. Un’ die Kinner.«
Cass fragte nicht, wessen »Kinner« das waren. Ob sie ihn wohl oft besuchten?
Captain seufzte laut.
»Sie haben mal gesagt …«
»Aye, Schätzchen. Ich kann für Sie telefonier’n gehn und mit ’nem Quad oder so was zurückkommen. Oder vielleicht jemand schick’n, der Sie hier rausholt.«
Cass machte eine Pause, betrachtete erst ihn, dann seinen Hund. Sie biss sich auf die Unterlippe. »Sehr freundlich von Ihnen. Aber ich denke, Sie sollten nicht gehen.«
»Nein?« Er kniff die Augen zusammen. »Warum nicht?«
»Na ja, der Weg ist ziemlich weit, fürchte ich. Er könnte zu viel für Sie sein, und …«
Bert lachte
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