Wintersturm
letzten Jahr darum bitten wollen, ihr Haar auswachsen zu lassen, aber er hatte es nicht gewagt.
»Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, Liebling«, sagte er sanft.
Er bemerkte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.
Michael blickte überrascht auf. »Mami hat heute Geburtstag?
Das hast du mir gar nicht gesagt.«
Missy richtete sich auf. »Mami hat Geburtstag?« Es klang sehr erfreut.
»Ja«, bestätigte Ray. Nancy starrte vor sich auf den Tisch.
»Und heute abend wird gefeiert. Heute abend bringe ich einen großen Geburtstagskuchen mit und ein Geschenk, und wir laden Tante Dorothy ein, zum Abendessen herzukommen.
Einverstanden, Mami?
»Ray… nein.« Nancys Stimme klang leise und beschwörend.
»Doch. Erinnere dich nur. Im vergangenen Jahr hast du versprochen, daß wir dieses Jahr…«
Feiern war nicht das richtige Wort. Das konnte er nicht sagen. Aber er war sich seit langem darüber klar, daß sie eines Tages beginnen mußten, ihren Geburtstag auf eine andere Weise zu begehen. Anfangs hatte sie sich immer ganz von ihm zurückgezogen, war um das Haus gegangen oder am Strand entlanggewandert wie ein stummer Geist, in einer Welt für sich.
Aber im vergangenen Jahr hatte sie schließlich angefangen, über sie zu sprechen… über die beiden anderen Kinder. Sie hatte gesagt: »Sie wären jetzt schon so groß – zehn und elf. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie heute aussehen würden, aber anscheinend kann ich mir nicht einmal vorstellen, wie… Alles, was jene Zeit betrifft, ist so verschwommen. Wie ein Alptraum, als hätte ich es nur geträumt.«
»Das ist wohl immer so«, hatte Ray zu ihr gesagt. »Laß das alles hinter dir, Liebling. Denk nicht mehr an das, was geschehen ist.«
Die Erinnerung daran bestärkte ihn in seinem Entschluß. Er beugte sich über Nancy, und mit einer gleichermaßen beschützenden wie sanften Gebärde strich er ihr über das Haar.
Nancy blickte zu ihm auf. Der beschwörende Ausdruck in ihrem Gesicht wurde schwächer. »Ich glaube nicht –«
Michael unterbrach sie. »Wie alt bist du, Mami?« fragte er sachlich.
Nancy lächelte – ein echtes Lächeln, das wunderbarerweise die Spannung löste. »Das geht dich nichts an«, antwortete sie ihm.
Ray nahm schnell einen Schluck von ihrem Kaffee. »Brav, mein Schatz«, sagte er. »Hör mal, Mike. Ich hole dich heute nachmittag nach der Schule ab, und wir kümmern uns dann um ein Geschenk für Mami. Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Heute kommt jemand, um das Hunt-Haus zu besichtigen. Ich möchte noch die Akte zusammenstellen.«
»Ist es nicht vermietet?« fragte Nancy.
»Ja. Dieser Parrish, der es schon öfter gemietet hat, ist wieder drin. Aber er weiß, daß wir das Recht haben, es jederzeit zu besichtigen. Für ein Restaurant hat es eine einzigartige Lage, und es wäre kein Problem, es umzubauen.
Wenn ich es verkaufe, bringt es eine ganz hübsche Provision ein.«
Nancy nahm Missy vom Schoß und begleitete ihn zur Tür.
Er gab ihr einen leichten Kuß und fühlte, wie ihre Lippen unter seinen zitterten. Wie sehr hatte er sie durch das Geburtstagsgerede aus der Fassung gebracht? Instinktiv drängte es ihn zu sagen: Wir wollen nicht bis heute abend warten. Ich bleibe zu Hause, und wir nehmen die Kinder und fahren heute nach Boston.
Statt dessen stieg er ins Auto, winkte, setzte den Wagen zurück und steuerte in den engen Feldweg hinein, der sich durch einen kleinen Wald schlängelte und schließlich in die Überlandstraße zum Kap mündete. Von hier gelangte er ins Zentrum von Adams Port und zu seinem Büro.
Ray hatte recht, dachte Nancy, als sie langsam zum Tisch zurückging. Einmal kam die Zeit, da man aufhören mußte, den Mustern der Vergangenheit zu folgen, und immer wieder zurückzudenken, eine Zeit, wo man nur noch in die Zukunft blicken durfte. Sie wußte, etwas in ihr war immer noch wie erstarrt. Sie wußte, daß die menschliche Psyche einen schützenden Vorhang über schmerzliche Erinnerungen herabließ – aber es war mehr als das.
Es war so, als ob ihr Leben mit Carl nur eine nebelhafte Erinnerung wäre… die ganze Zeit mit ihm. Es fiel ihr schwer, sich an das Fakultätsgebäude auf dem Universitätsgelände zu erinnern, an Carls gedämpfte Stimme… an Peter und Lisa. Wie hatten sie ausgesehen? Dunkles Haar, alle beide, wie das von Carl, und viel zu still… zu gehorsam… von ihrer Unsicherheit angesteckt… und dann verschwunden – alle beide.
»Mami, warum siehst du so
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