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Wintersturm

Titel: Wintersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Fremden nichts zu tun haben wollten, und das war gut so. Sie brauchte einen Winkel, in dem sie sich verbergen, in dem sie wieder zu sich selbst finden konnte, um mit allem fertig zu werden und um all das, was geschehen war, zu überdenken und zu versuchen, ins Leben zurückzufinden.
    Sie hatte sich ihr Haar abgeschnitten und es dunkelbraun gefärbt, und das genügte, um sie völlig anders aussehen zu lassen als auf den Bildern, die während des Prozesses überall im Land auf den Titelseiten der Zeitungen erschienen waren.
    Sie war überzeugt, daß es eine Fügung des Schicksals war, als sie sich für Rays Maklerbüro entschieden hatte, damals, als sie ein Haus zu mieten suchte. Eigentlich hatte sie sogar noch eine Verabredung mit einem anderen Immobilienmakler getroffen, aber, einem plötzlichen Impuls folgend, hatte sie Rays Büro betreten, um zuerst mit ihm zu verhandeln, weil ihr sein handgedrucktes Firmenschild und die mit gelben und champagnerfarbenen Chrysanthemen gefüllten Blumenkästen am Fenster gefielen.
    Sie hatte gewartet, bis er einen anderen Kunden bedient hatte

    – einen alten Mann mit einem Gesicht wie Leder und dichtem, lockigem Haar, und sie hatte es bewundert, wie Ray dem Mann empfohlen hatte, an seinem Besitz festzuhalten, und wie er ihm versprochen hatte, daß er sich bemühen werde, für das Apartment in dem Haus einen Mieter zu finden, um die Unkosten zu decken.
    Nachdem der alte Mann gegangen war, sagte sie: »Vielleicht komme ich gerade zum rechten Zeitpunkt. Ich möchte ein Haus mieten.«
    Er wollte ihr das alte Hunt-Haus aber nicht einmal zeigen.
    »›Der Ausguck‹ ist zu groß, zu einsam und zu windig für Sie«, sagte er. »Doch ich habe gerade einen Vermieterauftrag für ein echtes Kap-Haus hereinbekommen, das in hervorragendem Zustand ist und voll möbliert. Wenn Sie Wert darauf legen, könnten Sie es vielleicht sogar kaufen. Wie viele Zimmer benötigen Sie, Miß… Mrs—?«
    »Miß Kiernan«, entgegnete sie. »Nancy Kiernan.« Instinktiv gab sie den Mädchennamen ihrer Mutter an. »Nicht viele, eigentlich. Ich werde sicherlich keine Gäste oder Besucher haben.«
    Es gefiel ihr, daß er keine Fragen stellte und sie nicht einmal neugierig anblickte. »Das Kap ist die richtige Umgebung für jemanden, der allein sein möchte«, sagte er. »Man kann sich da gar nicht einsam fühlen, wenn man am Strand entlangwandert oder den Sonnenuntergang beobachtet oder am Morgen einfach aus dem Fenster schaut.«
    Dann hatte Ray sie hierhergebracht, und sie hatte sofort gewußt, daß sie bleiben würde. Der alte Salon, der einst den Mittelpunkt des Hauses gebildet hatte, war in ein kombiniertes Wohn- und Eßzimmer umgestaltet worden. Sie liebte den Schaukelstuhl vor dem offenen Kamin und die Art und Weise, wie der Tisch vor das Fenster gestellt war, so daß man beim Essen über den Hafen und die Bucht blicken konnte.
    Sie hatte sofort einziehen können. Sollte sich Ray darüber gewundert haben, daß sie nichts hatte als die beiden Koffer, mit denen sie aus dem Bus gestiegen war – gezeigt hatte er es nicht. Sie hatte gesagt, daß ihre Mutter gestorben sei und daß sie ihr Haus in Ohio verkauft und beschlossen habe, sich an der Ostküste niederzulassen. Sie hatte es einfach vermieden, über die sechs Jahre zu sprechen, die dazwischen gelegen hatten.
    Damals, zum ersten Mal seit Monaten, hatte sie die ganze Nacht fest durchgeschlafen – einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem sie nicht hörte, wie Peter und Lisa nach ihr riefen, in dem sie nicht in einem Gerichtssaal saß und erlebte, wie Carl sie verdammte.
    An jenem ersten Morgen hier hatte sie Kaffee gekocht und danach am Fenster gesessen. Es war ein klarer, heller Tag gewesen – purpurblau der wolkenlose Himmel; ruhig und still die Bucht; die einzige Bewegung ein Schwärm von Seemöwen, der in der Nähe der Fischerboote schwebte.
    Ihre Hände hatten die Kaffeetasse umschlossen, und sie hatte an dem Kaffee genippt und hinausgeschaut. Die Wärme des Kaffees war durch sie hindurchgeströmt. Die Sonnenstrahlen hatten ihr Gesicht erwärmt. Die heitere Stille des Bildes hatte das Empfinden innerer Ausgeglichenheit, das schon nach dem langen, traumlosen Schlaf in sie eingekehrt war, noch verstärkt.
    Frieden… gib mir Frieden. Das war ihr Gebet gewesen während des Prozesses und im Gefängnis. Ich muß lernen, es hinzunehmen. Vor sieben Jahren…
    Nancy holte tief Luft, als sie bemerkte, daß sie noch immer auf der untersten Treppenstufe stand. Es

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