Wintersturm
war so leicht, sich in Erinnerungen zu verlieren. Deshalb hatte sie sich so angestrengt, jeden Tag bewußt zu leben… und nicht in die Vergangenheit und auch nicht in die Zukunft zu schauen.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Wie konnte es je Frieden für sie geben, wo sie wußte, daß man sie erneut als Mörderin vor Gericht stellen würde, wenn Rob Legler je wieder auftauchen sollte. Daß man sie von Ray und Missy und Michael trennen würde! Einen Moment lang legte sie ihr Gesicht in die Hände. Nicht daran denken, sagte sie sich. Es hat keinen Zweck.
Oben auf dem Treppenabsatz angelangt, schüttelte sie entschlossen den Kopf und ging schnell ins Schlafzimmer. Sie riß die Fenster auf und fröstelte, als der Wind ihr die Vorhänge entgegen wehte. Wolken zogen auf, und auf dem aufgewühlten Wasser in der Bucht hatten sich Schaumkronen gebildet. Die Temperatur sank sehr schnell, und Nancy lebte nun schon lange genug am Kap, um zu wissen, daß ein so kalter Wind wie dieser bald in einen Sturm umschlagen würde.
Aber eigentlich war es noch klar genug, um die Kinder draußen zu lassen. Sie hatte es gern, wenn sie morgens möglichst lange an der frischen Luft waren. Nach dem Essen hielt Missy einen Mittagsschlaf, und Michael ging in den Kindergarten.
Sie wollte gerade die Bettücher von dem großen Doppelbett abziehen, als sie einhielt. Gestern war Missys Nase gelaufen.
Sollte sie hinuntergehen und ihr einschärfen, bloß nicht den Jackenkragen zu öffnen? Das war eine ihrer beliebten kleinen Unarten. Missy beklagte sich immer darüber, daß ihre Sachen am Hals zu eng wären.
Nancy zögerte und überlegte einen Augenblick, dann schlug sie die Laken ganz zurück und zog sie ab. Missy hatte einen Rollkragenpullover an. Selbst wenn sie die Knöpfe öffnete, wäre ihr Hals bedeckt. Außerdem dauerte es höchstens zehn oder fünfzehn Minuten, bis sie das Bettzeug abgezogen, gewechselt und in die Waschmaschine gesteckt hätte.
Höchstens zehn Minuten, nahm sie sich vor, um die quälende Unruhe zu unterdrücken, die sie unentwegt drängte, nach draußen zu den Kindern zu gehen, auf der Stelle.
2
Manchmal ging Jonathan Knowles morgens zu Fuß zum Drugstore, um seine Morgenzeitung zu holen. An den übrigen Tagen fuhr er mit dem Fahrrad. Sein Ausflug führte ihn immer an dem alten Nickerson-Haus vorbei, dem Haus, das Ray Eldredge gekauft hatte, als er die hübsche Kleine heiratete, die da zur Miete wohnte.
Als das Haus noch dem alten Sam Nickerson gehörte, war es langsam verfallen. Jetzt aber sah es sauber und solide aus. Ray hatte das Dach neu gedeckt und das Holz gestrichen, und seine Frau verstand wirklich etwas von Gartenarbeit. Die gelben und orangefarbenen Chrysanthemen in den Blumenkästen gaben selbst dem trübsten Tag ein wenig Wärme und Freundlichkeit.
Bei schönem Wetter war Nancy Eldredge oft schon frühmorgens draußen bei ihrer Gartenarbeit. Sie hatte stets einen freundlichen Gruß für ihn und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Jonathan hatte einen solchen Zug an einer Frau immer bewundert. Er hatte Rays Familie schon gekannt, als er und Emily hier oben noch Sommergäste waren. Natürlich – die Eldredges waren schon bei der Besiedlung des Kaps dabeigewesen. Rays Vater hatte Jonathan den ganzen Stammbaum der Familie aufgezählt – bis zu dem Mann zurück, der mit der Mayflower herübergekommen war.
Die Tatsache, daß Rays Liebe zum Kap so groß war, daß er sich sogar entschloß, sich hier eine berufliche Existenz zu gründen, war in Jonathans Augen besonders bemerkenswert.
Das Kap hatte Seen und Weiher und die Bucht und den Ozean.
Es hatte Wälder, in denen man wandern konnte, und Land, auf dem sich die Leute ausbreiten konnten. Es war der richtige Ort für ein junges Paar, um Kinder aufzuziehen, und es war die richtige Umgebung für Leute, die sich zur Ruhe setzen und hier ihren Lebensabend verbringen wollten. Jonathan und Emily hatten hier immer ihren Urlaub verlebt und sich schon auf die Zeit gefreut, in der sie hier für immer wohnen würden. Sie hatten es auch schon fast geschafft. Emily hatte es aber leider nicht mehr erlebt.
Jonathan holte tief Luft. Er war ein kräftiger Mann mit dichtem weißem Haar, einem breiten Gesicht und dem Ansatz zu einem Doppelkinn. Er war Rechtsanwalt und jetzt im Ruhestand, doch die Untätigkeit bedrückte ihn. Im Winter konnte man nicht angeln gehen, und in den Antiquitätenläden herumzustöbern und Möbel aufzuarbeiten, machte auch nicht mehr so
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